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Christen in Gesellschaft und Staat

Oder die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält

Wie sehen soziale Rahmenbedingungen aus, ohne die ein erträgliches Zusammenleben nicht möglich wäre? Unter welchen Voraussetzungen leben wir in der Welt und wie weit können wir gehen (oder auch nicht), um gemeinschaftliche Strukturen zu verbessern oder zu ändern?

„Mitmenschliches Leben findet nach Gottes Willen in der Geschichte dieser Welt seine Form in gesellschaftlichen Strukturen und staatlichen Ordnungen.“ Mit diesem Satz beginnt der letzte Abschnitt unter der Überschrift „Die Christen in der Welt“ der Rechenschaft vom Glauben (RvG, Teil 2, II/4).

Familie, Ehe und hier eben insbesondere der Staat gehören nach dieser Auffassung also zu den in der Schöpfung angelegten sozialen Gestaltungsformen. Dazu wird auf Römer 13,1-7 und Jeremia 29,7 verwiesen, nicht jedoch auf die Schöpfungsgeschichte selber. Das ist bezeichnend. Offenbar setzt die RvG den Staat als Schöpfungsordnung einfach voraus. Zu Recht? Warum dann nicht auch die Sklaverei, die von der Antike bis weit in die Neuzeit hinein in christlichen Gesellschaften als eine gottgewollte Institution betrachtet wurde? Moment mal, das war ja wohl auch wirklich ein großer Irrtum, möchte man einwenden. Nun, es mag wohl sein, dass Sklaverei inzwischen nur noch selten mit der Bibel begründet wird, ihre Existenz ist in vielen Teilen der Welt jedoch bis heute Tatsache. Einmal ins Grübeln geraten, steht man vor dem Problem, dass sich alle sozialen Formen letztlich „in der Geschichte dieser Welt“ (so formuliert auch die RvG) herausgebildet haben und insofern variabel sind. Gibt es dann überhaupt unveränderbare soziale Konstanten (wie den Staat), die der Menschheit von Anfang an gegeben sind? Das ist beileibe (k)eine Kinderfrage!

Die RvG jedenfalls denkt immer schon an die staatlich verfasste Gesellschaft und bezeichnet sie als „ein Mandat Gottes für diese Welt“. Der Ausdruck Mandat geht auf den Theologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) zurück, der damit verdeutlichen wollte, dass Gott die Menschen dazu beauftragt habe, seine Schöpfung zu erhalten, und zwar laut Bonhoeffer im Rahmen von Ehe, Familie und Staat. Darüber hinaus zählt er zu diesen Mandaten die Arbeit (siehe 1. Mose 3,17) und – erstaunlicherweise die Kirche! Die RvG sieht in unserem Abschnitt jedenfalls nur im Staat einen solchen Grundauftrag Gottes gegeben.

Wenn aber der Staat als regulative Kraft in vormodernen Gesellschaften noch gar nicht existierte (von der Kirche ganz zu schweigen), wie kann er dann schon in der Schöpfung angelegt sein? Oder gibt es vielleicht jenseits des Staates eine noch grundlegendere Schöpfungsordnung?

Sieht man etwas genau hin, deutet die RvG dafür durchaus eine Richtung an: Denn das Thema Gesellschaft wird schon in II.1 und II.2 unter dem Aspekt der Verantwortung für ein solidarisches Miteinander und das Eintreten für soziale Gerechtigkeit und gegen Diskriminierung von Minderheiten thematisiert (siehe dazu die beiden zuletzt erschienenen Beiträge in DG 20 und 21). „Gerechtigkeit“ wäre von dieser Perspektive her also auch ein sehr sinnvoller Kandidat für eine schöpfungsgemäße soziale Grundordnung. Sie hätte auch ein konkretes biblisches Fundament: „Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, und deine Wahrheit, soweit die Wolken gehen. Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge Gottes und dein Recht wie die große Tiefe“ (Ps 36,6-7). Im Alten Israel ebenso wie im gesamten Alten Orient wurde Gerechtigkeit als eine den Menschen und Göttern vorgegebene Dimension der Wirklichkeit angesehen, die die Welt buchstäblich zusammenhält. Dazu gehört auch das „Mandat“, Verantwortung für den Erhalt der Schöpfung zu übernehmen (siehe Teil I Abschnitt 4 der RvG: „Gottes Schöpfung“). Und wenn man die Abschnitte unter der Überschrift II, „Die Christen in der Welt“, konkret aufeinander bezieht, wird dieser fundamentale Bezug zur Gerechtigkeit sichtbar.

Solange eine Gesellschaftsordnung auf dem Prinzip der Gerechtigkeit aufbaut, ist sie also schöpfungsgemäß. An diesem biblischen Maßstab wären alle modernen Gesellschaftsordnungen zu messen – egal ob sie sich Kapitalismus, Sozialismus, Liberalismus oder soziale Marktwirtschaft nennen. Nach meiner Auffassung hätte dieses Kriterium in der RvG deutlicher markiert werden können. Stattdessen fordert die RvG nur sehr allgemein dazu auf, das Leben innerhalb jedweder Gesellschaftsform „mitzugestalten“. Sie denkt dabei nicht an Umsturz und auch nicht an Fortschritt. In der Formulierung spricht sich vielmehr eine tiefe Skepsis gegenüber „menschlichen Entwürfen einer machbaren Zukunft“ aus, weil der christliche Glaube auf die endgültige Durchsetzung „einer neuen Schöpfung“ Gottes setze.

Auf der anderen Seite grenzt sich die RvG klar ab gegenüber Gesellschaftsformen, die den Menschen „in seiner Ganzheit beanspruchen“, das heißt, totalitäre Staaten welcher ideologischen Spielart auch immer geraten in einen fundamentalen Widerspruch zum Herrschaftsanspruch Gottes. Und Kirchen, die sich ganz in den Dienst solcher Staaten stellen, verlieren ebenfalls ihre Glaubwürdigkeit. Wir dürfen uns glücklich schätzen, dass wir in Deutschland seit Jahrzehnten in einer freien Gesellschaft leben, die ganz bewusst keiner überhöhten Staatsideologie huldigt. Unsere Gesellschaft mitzugestalten heißt unter Umständen dennoch, Konflikte einzugehen. Wenn es um Gerechtigkeit und Freiheit geht, lässt sich Streit nicht vermeiden, das weiß auch die RvG unter Verweis auf Apostelgeschichte 5,29. Wie man Gott gehorchen kann, liegt damit nicht einfach auf der Hand, sondern wird sich nur im konstruktiven Dialog klären lassen.

Einladung zum Weiterdenken

1. Gibt es in der Schöpfung angelegte soziale Ordnungen, auch unabhängig von einer christlichen Sicht auf die Welt? Und wenn ja, welche?

2. Soll man der „Obrigkeit“ (jederzeit) untertan sein (Römer 13,1)?

3. Die RvG fordert zur aktiven Mitgestaltung der Gesellschaft heraus, eine „machbare Zukunft“ sieht sie dagegen skeptisch. Was sagst Du / sagt Ihr zu dieser Spannung?

Erschienen in: Die Gemeinde 22/2022, S.14-15.

Ein Artikel von Prof. Dr. Dirk Sager, Professor für Altes Testament an der Theologischen Hochschule Elstal

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