„Der Kunde ist der neue Boss“
Treffen des Netzwerks „Beratung von Gemeinden“
„Agile Organisation“ war das Thema beim Treffen des Netzwerks „Beratung von Gemeinden“ am 18. November in der Gemeinde Kassel-West. Unter den 44 Teilnehmenden waren neben Gemeindeberatern auch Gäste und Vertreterinnen und Vertreter aus den Landesverbänden, die dort für Fragen der Gemeindeentwicklung verantwortlich sind. Martin Seydlitz, Mitglied im Fachbeirat „Beratung von Gemeinden“ und Mitorganisator des Beratertreffens, berichtet, wie er den Tag erlebt hat.
„Eine steigende Dynamik in gesellschaftlichen Veränderungen wirkt sich auch auf unsere Gemeinden aus“, so Pastorin Heike Beiderbeck-Haus, Referentin für Gemeindeberatung. „Wie gehen wir mit den Generationen X, Y und Z um? Wie reagieren wir angemessen auf ein verändertes Lebensgefühl und Mitarbeiterverhalten? Auf Situationen, in denen es schwerfällt, klassische Leitungsrollen zu besetzen?“ Zu diesen Fragen hat das Netzwerk „Beratung von Gemeinden“ André Häusling, einen der deutschen Pioniere zum Thema „Agile Organisationen“, als Referenten eingeladen. „Mit der Firma HR Pioneers auf agile Personal- und Organisationsentwicklung spezialisiert, brachte er seine professionellen Pfunde mit der Leidenschaft für die Gemeinde Jesu zusammen – ein interessantes Crossover!“, so Beiderbeck-Haus.
André Häusling hielt auf dem Beratertag ein glühendes Plädoyer für agile Organisationsstrukturen in unseren Gemeinden. Viele Gemeinden seien – trotz ihrer basisdemokratischen Grundordnung – von oben nach unten verfasst. Eine Schar von Mitarbeitenden sorgen für die Umsetzung von Ideen, die in der Leitung für richtig befunden wurden. Dieses Verfahren hat seine Stärken, lässt aber viel Potential ungenutzt. Häusling sieht in der Selbstorganisation einen großen Katalysator für die Produktivität von Systemen. Selbstorganisation bedeutet nicht, Dinge dem Zufall zu überlassen. Es bedeutet vielmehr Steuerung durch das Setzen von Rahmenbedingungen. Leitungspersonen sollten mehr Aufmerksamkeit auf das Coachen und Befähigen anderer verwenden, als ihre Unentbehrlichkeit bewusst oder unbewusst zu stärken
Organisationen, die ein „Pull-Prinzip“ (pull = ziehen) kultivieren seien leistungsfähiger. Mitarbeitende sollen demzufolge eingeladen werden, Verantwortung und Engagement an sich zu ziehen. Während das „Push-Prinzip“ bedeutet, Mitarbeitende zu fordern oder gar unter Druck zu setzen. Häusling spricht sich ganz grundsätzlich dafür aus, die vielerorts noch im Brauch befindliche Hierarchie, an der ein Leitungsgremium oder gar eine Einzelperson an der Spitze stehe, umzudrehen. Die alle Aktivitäten bestimmende Ebene sollten die Kunden sein. Die Anliegen und Bedürfnisse derer, für die eine Gemeinde oder Organisation da ist, müssten mehr in den Focus kommen. Hier gibt es gute Erfahrungen von Gemeinden, die sich diesbezüglich in einem Mentalitätswandel befinden. Eine Gemeinde entdeckt zum Beispiel, dass sie in ihrem Umfeld keine wirtschaftlich Armen hat. Stattdessen stellt sie fest, dass die Menschen in der Nachbarschaft sehr isoliert und beziehungslos leben. Mit der Organisation von Kochkursen und anderen Maßnahmen versucht sie nun, dem Bedürfnis vieler Menschen entgegen zu kommen. Für diese Angebote finden sich in der Gemeinde Engagierte. Die Leitung unterstützt ihrerseits die Mitarbeitenden und bildet sie, wo nötig, für ihre Aufgaben aus. „Der Kunde ist der neue Boss“, wirft Häusling als These in den Raum und wirbt dafür, sich in den Gemeinden konsequent daran auszurichten.
Obwohl der diesjährige Beratertag viele Vortragseinheiten bot, schien es den Teilnehmenden nie langweilig. Eine Spielerunde, am Ende sehr sorgfältig ausgewertet, zwei Gesprächsphasen und auch die Pausen zwischendurch lockerten auf. Vor allem aber war es der engagierten, kompetenten, erfrischenden Art des Referenten zu verdanken, dass am Ende langanhaltender Applaus zu hören war. Hier sprach einer aus der Praxis, der seine beruflichen Erfahrungen auf den Gemeinde- und Beratungsalltag anzuwenden verstand. So wurde dieser Tag für die allermeisten zu einer wertvollen, inspirierenden Erfahrung.
Im Netzwerk „Beratung von Gemeinden“ sind aktuell 65 Beraterinnen und Berater akkreditiert. Sie begleiten Gemeinden in Gesprächsprozessen, können für Klausurtage und Teamcoaching eingeladen werden, unterstützen bei Konfliktlösungen oder bringen bei einer Zukunftswerkstatt die Kreativität der Gemeinde in einen fruchtbaren Prozess. Wer das nutzen möchte, kann sich an die Referentin für Gemeindeberatung, Pastorin Heike Beiderbeck-Haus in Elstal wenden: gemeindeberatung(at)baptisten.de.
Ein Artikel von Heike Beiderbeck-Haus/Martin Seydlitz