Foto: Holger Teubert / APD

Freikirchen und Judentum

Tagung des Vereins für Freikirchenforschung

„Das Verhältnis der Freikirchen zum Judentum“ war das Thema der Jahrestagung des Vereins für Freikirchenforschung (VFF) am 26. und 27. Mai im Internationalen Tagungszentrum „Karimu“ in Burbach-Holzhausen im südlichen Siegerland an der westfälisch-hessischen Landesgrenze.

Der 70. Jahrestag der Gründung des Staates Israel sei bei den Freikirchen in Deutschland bisher kein Anlass gewesen, sich damit eingehender zu befassen, stellte Dr. Christoph Raedel, 1. Vorsitzender des VFF und Professor für Systematische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen, bei der Tagungseröffnung fest. Anders wäre es dagegen beim Thema Freikirchen und Judentum. Hierzu gingen die Meinungen auseinander, ob die Erwählung des Volkes Israel durch Gott von Dauer sei oder durch Jesu Tod am Kreuz sein Ende fand, sodass die christliche Kirche an die Stelle Israels trat. Dabei gehe es auch um die Frage, ob sich die Juden als Einzelne oder sogar als Nation zu Jesus bekehren müssten, um in die Kirche integriert zu werden.

Baptisten und Juden

Dr. Dirk Sager, Professor für Altes Testament an der Theologischen Hochschule des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) in Elstal bei Potsdam, befasste sich mit dem christlich-jüdischen Dialog in evangelisch-freikirchlicher Perspektive. Dazu stellte er eine Handreichung vor, die am 7. Mai 1997 vom BEFG-Bundesrat in Hamburg beschlossen wurde und den baptistischen Gemeinden als theologische Arbeitshilfe dienen soll. Darin wird festgestellt: „Eine ‚Verwerfung‘ oder ‚Verstoßung‘ Israels hat nicht stattgefunden.“ Es wird präzisiert: „Gott hat seinen Bund mit Israel nicht gekündigt, sondern durch Verheißung erneuert und in Christus bestätigt.“ Die Handreichung befasst sich weiter mit den Abschnitten „Juden und Christen – was uns verbindet“, „Grenzen des Dialogs“, „Die Lehren aus der Geschichte“ sowie „Konkretionen zum Dialog zwischen Juden und Christen“.

Evangelikale Bewegung und Judentum

Dr. Gerhard Gronauer, evangelisch-lutherischer Pfarrer in Dinkelsbühl und Lehrbeauftragter für Kirchengeschichte an der CVJM-Hochschule Kassel, hielt ein Referat über das Verhältnis der deutschen evangelikalen Bewegung nach 1945 zum Judentum. Schon vor der NS-Zeit habe es in freien Werken der Gemeinschaftsbewegung sowie in Freikirchen antisemitische Tendenzen gegeben. Davon sei auch nach dem 2. Weltkrieg noch bei Erich Sauer etwas zu spüren gewesen. Er habe sich darüber gewundert, dass Gott im Alten Testament gerade Israel, eine angeblich minderwertigere Rasse, erwählte. Per Faye-Hansen sah dagegen in der Gründung des Staates Israel ein Wirken Gottes. Erich Schnepel erwartete die Bekehrung aller Juden in Israel zu Jesus. Das glaubte Heinrich Wiesemann nicht. Er war davon überzeugt, dass die Juden von Gott verworfen seien. Der Sechstagekrieg 1967 mit der Eroberung Ostjerusalems und des Westjordanlandes durch das israelische Militär habe unter den Evangelikalen eine „Israel-Euphorie“ hervorgerufen. Sie sahen in dem Ereignis die Erfüllung biblischer Prophezeiungen und spekulierten über das Ende der Welt sowie die Wiederkunft Jesu. In den 1980er Jahren hätte in der westdeutschen Bevölkerung eine Offenheit geherrscht, sich mit dem Holocaust zu befassen, sodass es inzwischen auch unter Evangelikalen eine Bereitschaft zum christlich-jüdischen Dialog gebe.

Messianische Juden
Dr. Hanna Rucks, evangelisch-lutherische Pastorin in Harpstedt/Landkreis Oldenburg, sprach über das Selbstverständnis und die kirchliche Selbstverortung der messianischen Juden. Bei ihnen handele es sich um Juden, die an Jesus als den Messias Israels glauben. In den USA würden 90 Prozent der Juden, die an Jesus glauben, sich selbst nicht als messianische Juden bezeichnen. In Deutschland wäre dies wohl ähnlich. Die messianisch-jüdischen Gemeinden könnten von ihrer Organisationsform, ihren Überzeugungen und theologischen Inhalten, ebenso wie von ihrer Geschichte, als „Freikirche“ gewertet werden. Doch sprächen drei Aspekte dagegen: Die Bedeutung des Staates Israel, die Distanz zum Kirchenbegriff und die Absage davon, eine „Denomination“ unter vielen anderen zu sein, so Rucks.

Privatdozentin Dr. Stephanie Pfister, Lehrbeauftragte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, befasste sich ergänzend mit Konversion und Glaubensleben messianischer Juden in Deutschland. In der Bundesrepublik gebe es von ihnen 40 Gemeinden und Gruppen mit etwa 1.000 regelmäßigen Gottesdienstbesuchern. Davon wären knapp 600 tatsächlich messianische Juden, die zu 95 Prozent aus der ehemaligen Sowjetunion stammten. Die Gemeinden zeichneten sich durch jüdische Elemente im Gottesdienst aus.

Altlutherisches Zeugnis unter den Juden
Dr. Volker Stolle, Mannheim, emeritierter Professor für Neues Testament der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel, hielt den Vortrag „Das Zeugnis der altlutherischen Kirche unter den Juden“. In der altlutherischen Kirche schlossen sich jene lutherischen Gemeinden in Preußen zu einer vom Landesherrn unabhängigen Kirche zusammen, welche die 1817 erfolgte Union zwischen lutherischen und reformierten Gemeinden nicht akzeptierten. Erst 1841 wurden die Altlutheraner staatlich geduldet. 1972 schloss sich die altlutherische Kirche in der Bundesrepublik und 1991 auch in Ostdeutschland der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) an.

Für die Altlutheraner sei laut Stolle die Einstellung Martin Luthers zu den Juden entscheidend gewesen. Der Reformator habe die Ansicht vertreten, dass nach Jesu Tod und Auferstehung zu Pfingsten die Zeit der apostolischen Kirche ohne Bindung an ein bestimmtes Volk als das geistliche Reich Christi begann. Damit sah Luther einerseits alle jüdischen Erwartungen aufgehoben oder erfüllt und andererseits auch diejenigen Heilszusagen eingelöst, die Gott den Völkern außerhalb Israels gemacht hatte. Keineswegs seien für Luther die Juden damit aus der Kirche hinausgedrängt. Vielmehr könne nach seiner Überzeugung ihr eigentlicher, ihnen von Gott bestimmter Platz nur innerhalb der christlichen Kirche sein. Deshalb hatten die Altlutheraner bei ihrer Mission nicht nur die heidnischen Völker im Blick, sondern auch die Juden. Dies war umso selbstverständlicher, als in Preußen eine Reihe der Pastoren der Evangelisch-Lutherischen Kirche vorher in der „Judenmission“ tätig gewesen sei.

Marienschwesternschaft und Israel

Einen Einblick in die Wandlung der Israel-Theologie der Evangelischen Marienschwesternschaft in Darmstadt gab der Pfarrer und Wissenschaftliche Referent am Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes Bensheim, Dr. Dirk Spornhauer. Die Mitbegründerin der Schwesternschaft, Klara (Basilea) Schlink, habe eine besondere Heiligungstheologie entwickelt. Zu ihr gehörte die Vorstellung, dass Gott ganz bewusst negative Erfahrungen („Prüfungen“) den Christen schicke, damit diese lernten, in ihr böses Herz hineinzuschauen und zu erkennen, dass sie Erlösung nötig haben. Sünde verunehre Gott, deshalb müsse dafür Buße getan werden. Schlink habe das Volk und den Staat Israel gleichgesetzt. Da die Deutschen eine kollektive Schuld an den Juden begangen hätten, müssten sie jetzt dem Volk Israel mit tätiger Liebe begegnen. Später rief sie dazu auf, dass kleine Gruppen innerhalb der Christen und Juden hierbei den Anfang machen müssten, um dem drohenden Gericht Gottes zu entgehen. Ab 1967 ging es ihr um den einzelnen Menschen in seiner Beziehung zu dem Messias. Da Gott über die Sünde Schmerzen empfinde, gelte es ihn zu trösten und eine „Klagetrösterschar“ zu bilden.

Heute bemühten sich die Marienschwestern, so Spornhauer, einige Besonderheiten im Leben und der Lehre der Gemeinschaft zu relativieren oder abzulegen, die auf theologische Prägungen der Gründerinnen zurückzuführen seien. Diese hätten teilweise zu einer jahrzehntelangen Isolation der Schwesternschaft in weiten Teilen der evangelischen Welt geführt.

Siebenten-Tags-Adventisten und Juden
Auf den ersten Blick gebe es einige Gemeinsamkeiten zwischen Adventisten und Juden, die auf eine besondere Beziehung schließen ließen, stellte Dr. Johannes Hartlapp, Dozent für Kirchengeschichte an der adventistischen Theologischen Hochschule Friedensau bei Magdeburg, in seinem Vortrag „Verwandt – ähnlich – ungleich? Die Adventisten und ihre jüdischen Geschwister“ fest. Adventisten feiern den Sabbat von Freitagabend bis Samstagabend und sie lehnen unter anderem den Genuss von Schweinefleisch ab. Doch der Eindruck täusche. Die Feier des Sabbats hätten die Adventisten von den im 17. Jahrhundert in England entstandenen Siebenten-Tags-Baptisten übernommen. Zwar würden Adventisten die Ernährungsvorschriften in 3. Mose 11 beachten, doch dies sei mehr unter dem Einfluss der „Temperance Bewegung“ in den USA im 19. Jahrhundert geschehen, bei der es um eine gesunde Lebensweise ging. Heute gebe es viele Adventisten, die vegetarisch lebten und kein Fleisch äßen. Die altkirchliche Ansicht, dass Israel durch Jesu Tod nicht mehr Gottes Volk, sondern durch die christliche Gemeinde, bestehend aus Juden und Heiden, abgelöst worden sei, werde auch von Adventisten vertreten.

Als es auch in Deutschland Adventisten gab, hätten sie sich um eine sabbatfreie Arbeitsstelle bemüht und gern bei Juden gearbeitet. Wenn möglich hätten Adventisten ihre Kinder auch auf jüdische Schulen geschickt, weil dort der Samstag unterrichtsfrei war. Die Zahl der Adventisten jüdischer Herkunft sei aber auch in der NS-Zeit gering gewesen. Da im „Dritten Reich“ Adventisten unterstellt worden sei, „Neujuden“ zu sein, wären sie auf Distanz zum Judentum gegangen. Sie behaupteten, der Sabbat wäre kein jüdischer, sondern ein christlicher Feiertag und bezeichneten den Sabbat nur noch als „Ruhetag“. Einerseits hätten einzelne Adventisten damals Juden versteckt und ihnen das Leben gerettet, andererseits sei es in adventistischen Gemeinden zum Ausschluss von jüdischen Mitgliedern gekommen. 2005 äußerten die adventistischen Freikirchenleitungen in Deutschland und Österreich in einem gemeinsamen Schuldbekenntnis: „Wir beklagen zutiefst …, dass auch viele Siebenten-Tags-Adventisten an der Not und dem Leid ihrer jüdischen Mitbürger keinen Anteil nahmen… [und] dass Mitbürger jüdischer Herkunft von uns ausgegrenzt und ausgeschlossen, sich selbst überlassen und so der Gefangenschaft, Vertreibung oder dem Tod ausgeliefert wurden.“

Seit einigen Jahren bemühten sich in den USA adventistische Theologen jüdischer Herkunft die Distanz zwischen Adventisten und Juden zu überwinden. 2006 gründete die Generalkonferenz (Weltkirchenleitung) der Siebenten-Tags-Adventisten ein „Jüdisch-Adventistisches Freundschaftszentrum“ in Jerusalem (heute in Paris), um das weltweite Judentum näher kennenzulernen. Auch in der Theologischen Hochschule Friedensau sei es laut Hartlapp zu Begegnungen mit jüdischen Landesrabbinern und auch mit messianischen Juden gekommen.

Verein für Freikirchenforschung

Die VFF-Jahrestagung schloss mit dem Beitrag von Dr. Andreas Liese, Bielefeld, „‘Zum Fluch für die Nationen gesetzt‘? Die Geschlossenen Brüder und ihr Verhältnis zum jüdischen Volk“. Die in Burbach-Holzhausen gehaltenen Referate werden im Jahrbuch des Vereins für Freikirchenforschung dokumentiert, das 2019 erscheinen soll. Der VFF wurde 1990 gegründet und hat gegenwärtig 175 Mitglieder.

Ein Artikel von Holger Teubert/APD