Hände und Füße Jesu sein
Ein Interview mit Dr. Alia Abboud aus dem Libanon
Dr. Alia Abboud ist Direktorin für Entwicklung und Zusammenarbeit der Lebanese Society for Educational & Social Development (LSESD), der Libanesischen Gesellschaft für Bildung und Soziale Entwicklung. Diese baptistische Organisation mit Sitz in Beirut hat es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Partnerkirchen so zu stärken und mit den nötigen Ressourcen auszurüsten, dass sie den Menschen in ihrer Umgebung helfen können. German Baptist Aid und der Landesverband Bayern des BEFG unterstützen diese Arbeit. In einem Interview mit Julia Grundmann berichtet Alia Abboud, wie LSESD arbeitet und was sie dabei erlebt.
Dr. Alia Abboud, was sind die Aufgaben von LSESD?
Wir haben sechs verschiedene Arbeitsbereiche, durch die wir die Kirchen ermutigen und der Gesellschaft dienen wollen: das Arabische Baptistische Theologische Seminar (ABTS), unseren Verlag „DAR MANHAL AL HAYAT“ (Quelle des Lebens), die Baptistische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (BCYM), das Programm MERATH (Middle East Revive and Thrive, was so viel bedeutet wie „Der Nahe Osten lebt und gedeiht“), SKILD (Smart Kids with Individual Learning Differences, also „Schlaue Kinder mit Lernschwierigkeiten“) und die Beirut Baptist School, eine Schule für 3- bis 18-Jährige, die eine exzellente akademische Ausbildung anbietet, die auf christlichen Werten basiert. Das ermöglicht uns, sehr integrativ und ganzheitlich zu arbeiten.
Wo ist LSESD tätig?
Unser Fokus liegt vor allem auf dem Nahen Osten und Nordafrika. Von unseren sechs Arbeitsbereichen arbeiten einige eher lokal, andere regional und wieder andere sogar global. Wenn wir uns also beispielsweise das Theologische Seminar ansehen: Dort studieren Menschen aus Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten, Syrien, aus dem Irak, dem Sudan und dem Libanon. Wir haben aber auch Onlinestudienprogramme, die sogar Studierende in den Golfstaaten erreichen. Unser Verlag arbeitet gerade an einem Langzeit-Entwicklungsprojekt, bei dem akademische Lehrbücher herausgeben werden sollen, die dann in theologischen Seminaren und Schulen in ganz Nordafrika und dem Nahen Osten genutzt werden können.
Im Libanon ist fast jeder dritte Mensch ein Flüchtling. Insgesamt sind es geschätzt 1,5 Millionen Syrer und Syrerinnen, die hier Schutz suchen. Welche Rolle spielt LSESD in dieser Situation?
Wir wollen durch unsere Arbeit insgesamt eine Kulturveränderung bewirken. Vielleicht kann eine kleine Geschichte das gut veranschaulichen: Als der Syrienkrieg begann, besuchte ich einen Pastor nahe der syrischen Grenze und fragte ihn: „Warum engagiert Ihr euch als Gemeinde nicht in der Flüchtlingsarbeit für syrische Geflüchtete? Er antwortete mir: „Wenn wir das tun, würden wir viele unserer Gemeindemitglieder verlieren, denn sie leiden immer noch an den Verletzungen die sie durch die syrischen Soldaten erfahren haben.“ Das stimmte mich traurig, weil ich überzeugt davon war, dass es eine gute Gelegenheit gewesen wäre, „Hände und Füße Jesu“ zu sein. Ein Jahr später kam dieser Pastor auf LSESD zu und fragte, ob sie als Gemeinde nicht ein Lernzentrum für 100 syrische Flüchtlingskinder einrichten könnten. Zwei Jahre später gründeten sie noch ein Zentrum für 200 Kinder. Im dritten Jahr eröffneten sie einen Spiel- und Freizeitraum für nochmal 65 Kinder. Als ich den Pastor fragte, wie diese Veränderung zustande käme, sagte er: „Gott nutzt unsere Arbeit mit den syrischen Geflüchteten, um uns etwas über ihn beizubringen. Und die erste Lektion, die wir gelernt haben, ist Vergebung!“ Diese Gemeinde hat nicht ein libanesisches Mitglied verloren.
Wenn jemand in eine unserer Gemeinden kommt, dann ist es nicht wichtig, welche politische Meinung er hat und auf welcher Seite er steht. Die Kirche ist ein Ort, an dem jeder willkommen ist. Und das ist die Rolle, die die Kirche in diesen unruhigen Zeiten einnehmen sollte: eine friedfertige Rolle – sowohl in Syrien als auch im Libanon als auch in anderen Teilen der Welt. Wir sind Hände und Füße Jesu.
Was unterscheidet LSESD von anderen Nichtregierungsorganisationen?
Ich bin eine Geschichtenerzählerin, also möchte ich auch dazu eine Geschichte erzählen: Der Pastor einer unserer Partnergemeinden und seine Familie leben in Syrien in einer Region, die zu Kriegsbeginn viele Binnenvertriebene aufnahm. Also öffneten sie ihre Kirche und halfen den Menschen mit allem, was sie zum Leben brauchten. Als ich einmal mit einer Kollegin die Gemeinde besuchte, staunten wir über die vielen Gottesdienstbesucherinnen und -besucher. Der ganze Gang, der Altarraum – alles war mit Stühlen vollgestellt. Meine Kollegin und ich mussten uns einen Stuhl teilen, weil alle Sitzplätze belegt waren. Das Dach der Kirche war undicht und es tropfte die ganze Zeit durch die Decke. Eine Klimaanlage gab es nicht. Aber die vielen Leute saßen einfach da und feierten Gottesdienst mit viel Wärme in ihrem Herzen. Sie kamen in diese Gemeinde, weil sie sahen, dass es eine Gemeinde war, die Liebe und Fürsorge lebte. Sie sagten: „Wir kommen, weil euer Jesus Gebete erhört und weil ihr euch mit großer Ernsthaftigkeit um uns kümmert.“ Unser Antrieb ist ein anderer als der von nichtchristlichen Hilfsorganisationen. LSESD ist eine glaubensbasierte Organisation, deren Ansatz ganzheitlich ist. Wir glauben, dass glaubensbasierte Organisationen wie LSESD eine Rolle bei der Bewältigung von Problemen wie Armut und Verletzlichkeit spielen müssen. Warum? Weil der Glaube zählt! Er ist Teil des Alltags.
Was verbirgt sich hinter SKILD?
In dem Kontext, in dem wir leben, haben es Menschen, die „anders“ sind, oftmals schwer. Gerade Kinder mit besonderen Bedürfnissen werden häufig einfach nicht verstanden. Deshalb haben wir 2011 mit SKILD begonnen. Dabei ging es zunächst vor allem um individuelle Unterstützung der Kinder in unseren Lernzentren. Zur selben Zeit machte ein lokaler Fernsehsender eine Dokumentation über Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Darin sprachen der Geschäftsführer von LSESD Nabil Costa und seine Frau darüber, welch ein Segen ihr Kind für sie ist. So etwas war bisher noch nie dagewesen. Als die Sendung ausgestrahlt wurde, erhielten wir Anrufe aus dem ganzen Land von Familien, die mit derselben Situation kämpften, aber nicht wussten, dass ihren Kindern geholfen werden kann. Deshalb machten wir es uns – neben der individuellen Hilfe – zur Aufgabe, dass die Wahrnehmung dieser Kinder im Land zunimmt. Und dabei arbeiten wir mit dem Bildungsministerium und dem British Council zusammen und beziehen auch immer die Medien mit ein.
Apropos Medien: Einer der Arbeitsbereiche ist der DAR MANHAL AL HAYAT-Verlag. Was wird außer den eingangs erwähnten Lehrbüchern noch vom Verlag veröffentlicht?
Faszinierend ist hier besonders die Wirkung der Bilderbibeln, die unser Verlag herausgegeben hat. Eigentlich waren diese für Kinder bestimmt, aber wir waren sehr erstaunt, wie hoch die Nachfrage auch bei den Erwachsenen war. Eine Frau erzählte, dass ihre Neffen eine Bilderbibel geschenkt bekamen; da der Vater aber nicht lesen konnte, fragte er sie, ob sie den Jungen nicht vorlesen könne. Sie sagte: „Je mehr ich las, desto fragender wurde ich. Also fragte ich meinen Bruder, woher er die Bibel habe. Er gab mir die Adresse der Kirche.“ Die Frau nahm die Bilderbibel, ging zu der Gemeinde und sagte: „Ich habe das hier, nun gebt mir bitte das echte Buch.“ Also schenkte man ihr eine Bibel. Sie las die Bibel und wandte sich mit ihren Fragen immer wieder an die Gemeinde. Schließlich kam sie zum Glauben. Ich durfte bei ihrer Taufe dabei sein, bei der sie sagte, sie sei durch die Bilderbibel zum Glauben gekommen. Das ist so wunderbar!
Vielen Dank für dieses Gespräch, Alia Abboud!
Ein herzliches Dankeschön auch an German Baptist Aid und den Landesverband Bayern für die Unterstützung unserer Arbeit. Das ist ein großer Segen für uns. Gott begabt uns alle unterschiedlich. Nicht alle haben die Gabe, zu predigen oder zu evangelisieren. Aber wenn wir unseren Glauben leben, uns als Christinnen und Christen aktiv in die Gesellschaft einbringen, dann machen wir die Menschen um uns herum auf Christus aufmerksam. Das ist etwas, was ich bei meiner Tätigkeit bei LSESD gelernt habe. Alles, was der Herr von uns will, ist, dass wir ihm vertrauen und ihm gehorsam sind, der Rest ist Gottes Werk. Aber wir sind seine Hände und seine Füße.