Konferenzabend beim Bundesrat: Gerecht anders leben
Inspirationen aus dem Reich Gottes
Ideengeberinnen, Mutmacher, Vorreiterinnen – das waren die drei Vortragenden, die am Himmelfahrtstag den Konferenzabend gestalteten. In der von Jana Bednarz und Prof. Dr. Oliver Pilnei moderierten Veranstaltung inspirierten sie die Zuhörer und Zuhörerinnen.
„Ich wünsche dir, dass du nie vergisst, dass du wichtig bist. Einen Unterschied machst, eine Stimme hast.“ So beginnt der Segen, mit dem die Kinder der Villa Wertvoll in Magdeburg nach einem Workshoptag nach Hause entlassen werden. Hier können sie sich in Workshops künstlerisch entfalten und lernen nicht nur bestimmte Fertigkeiten, sondern erfahren auch, dass sie geliebt und wichtig sind. Bettina Becker, gelernte Industriekauffrau, Theologin, Streetworkerin und Theaterpädagogin, ging zunächst der Frage nach, was denn überhaupt gerecht ist. Als Mutter von drei Kindern weiß sie genau, dass das manchmal gar nicht so einfach zu entscheiden ist.
Anschaulich stellte sie das mit einem Luftballon dar, der aufgepustet wunderbar anzusehen ist, doch immer Gefahr läuft zu zerplatzen, wenn ihm der Stachel eines Kaktus zu nahekommt.
Diese Stacheln, die es schwer machen, allen Menschen gerecht zu werden, finden wir überall. Schon in den Startbedingungen, mit denen man sich aufmacht, um etwas zu erreichen, ist Ungerechtigkeit im Keim angelegt. Aus einem bestimmten Land zu kommen etwa kann einem Kind Steine in den Weg legen. Auch wenn es um das Gehalt der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Villa Wertvoll geht, kann man gar nicht eindeutig entscheiden, was Unrecht ist. Auch hier lauern Stacheln. Ist es gerecht, allen das gleiche Gehalt zu zahlen, wenn doch einige eine lange Ausbildung hinter sich haben, eine Familie in der Heimat versorgen müssen oder auch eine größere Summe geerbt haben, sodass sie es eigentlich gar nicht nötig haben zu arbeiten?
Kurz: Sich immer und überall hundertprozentig gerecht zu verhalten, so dass der Luftballon jederzeit vor den Stacheln geschützt ist, das geht einfach nicht. Doch bevor jemand angesichts dieser Aussichten in Schockstarre verfällt und gar nichts mehr tut, lautet Bettina Beckers Ratschlag: Packen wir etwas an. Lassen wir uns darauf ein, dass wir etwas bewegen können. Werden wir kreativ. Wir müssen die Welt nicht retten. Das hat Jesus schon getan. Wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott wirklich sein Reich kommen lässt, wenn wir ihn darum bitten.
Einen weiteren Akzent setzte Frank Heinrich, Vorstand der Evangelischen Allianz in Deutschland, Politischer Beauftragter am Sitz des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung und auch Gründungsmitglied einer Initiative gegen Menschenhandel. In seinem Impulsreferat nahm er die Zuhörenden mit in die Welt der modernen Sklaverei hinein. Vieles auf der Welt hat sich im Lauf der letzten Jahrhunderte – übrigens auch durch den Einsatz von Christen, wie gerne übersehen wird – verbessert, ob es nun um Religions- und Meinungsfreiheit, Frauenrechte, allgemeine Menschenrechte oder die Ächtung des Rassismus geht. Auch die Abschaffung der Sklaverei ist mit dem Namen eines Christen verbunden, William Wilberforce, Frank Heinrichs großes Vorbild. Doch trotzdem, so überraschend es auch klingt, sind heute viel mehr Menschen versklavt, ob nun in der Prostitution oder in der Produktion, als in jeder anderen geschichtlichen Epoche. Und das wird von den Bewohnern der westlichen Welt entscheidend unterstützt. Nur zwei Beispiele: In Deutschland hat statistisch gesehen jeder sechste Mann im Lauf der letzten sechs Wochen ein Bordell aufgesucht und damit Zuhälter unterstützt, die die Frauen versklaven. Und in manchen Teilen der Welt werden junge Männer bestens versorgt, und das nur aus einem Grund: weil sie menschliche Ersatzteilspender sind und auf Bestellung Organe liefern, die dann von deutschen Krankenkassen finanziert, hier bei uns transplantiert werden. Um noch einmal Wilberforce zu zitieren: Du kannst in die andere Richtung schauen, aber du kannst nicht sagen, du hättest es nicht gewusst.
Deshalb, so Frank Heinrichs Fazit, sollen wir die Freiheit, zu der uns Christus berufen hat, dazu nutzen, um anderen die Freiheit zu verschenken.
Den Abend beschloss die baptistische Theologin und Bibelübersetzerin Dr. Dr. Valérie Duval-Poujol aus Bordeaux mit einem Einblick in ein erschreckendes Problem, von dem viele sicherlich nicht geglaubt hatten, dass es existiert: häusliche Gewalt unter Christen. In Deutschland kam es im Jahr 2021 zu 301 Femiziden, dazu kommen noch etliche Mordversuche. Und das geschieht auch im Raum christlicher Gemeinden. Schlimmer noch, Gewalt gegen Frauen wird mitunter mit aus dem Zusammenhang gerissenen Bibelverse begründet: „Die Frau sei dem Mann untertan“ und anderen.
Valérie Duval-Poujol hat deshalb die Organisation Une place pour elle („Ein Platz für sie“) gegründet, die Frauen eine Stimme gibt. Und noch viele andere Möglichkeiten gibt es, etwa eine Charta gegen häusliche Gewalt, die man zum Beispiel in Gemeinden ans Schwarze Brett hängen kann. Ein Satz daraus: „Unsere Gemeinde bekräftigt, dass häusliche Gewalt in all ihren Formen unzulässig, nicht zu rechtfertigen und nicht mit dem christlichen Glauben zu vereinbaren ist.“ Dieser Satz kann Frauen Mut machen und hat ihnen nachweislich Mut gemacht, ihre Geschichte jemandem anzuvertrauen. Darüber hinaus hat der baptistische Weltbund eine Seite eingerichtet: standagainstdv.net, übersetzt „Aufstehen gegen häusliche Gewalt (domestic violence)“, die viele englischsprachige Ressourcen bietet.
Mit einem Zitat von Martin Luther King beschloss sie diesen Abend: „Willst du Thermometer sein oder Thermostat?“ Mit anderen Worten: Willst du nur die Temperatur messen und zur Kenntnis nehmen, was auf dieser Welt alles schiefläuft, oder willst du eingreifen, regeln und die Situation zu Besseren verändern?
Der Konferenzabend lässt sich auf YouTube noch einmal nacherleben.
Ein Artikel von Wolfgang Günter, Zeitschrift Die Gemeinde