Loslassen gehört dazu
Zum Dienstende von Klaus Haubold als Fluthilfe-Seelsorger
Nach dem Hochwasser am 14. und 15. Juli 2021 im Ahrtal war Klaus Haubold ab 2022 im Auftrag des Bundes FeG und des BEFG als Beauftragter für pastorale Seelsorge vor Ort. Zusammen mit anderen setzte er sich für die Betroffenen des Jahrhunderthochwassers ein. Nach fast drei Jahren ist nun sein Auftrag beendet. Er blickt zurück auf die Zeit und sagt, warum es gut ist, wenn man nach einschneidenden Ereignissen auch wieder gehen darf.
Ein Interview von Artur Wiebe mit Klaus Haubold und Maternus Gasper, einem Betroffenen der Flutkatastrophe, können Sie hier lesen.
Am 30. Juni 2024 endet die gemeinsame Fluthilfe der beiden Bünde Bund Freier evangelischer Gemeinden (FeG) und Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) in den Flutgebieten von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Sie entstand infolge der schrecklichen Flut im Juli 2021, bei der mehr als 180 Menschen starben und ganze Landstriche verwüstet wurden. Dank zahlreicher Spenden konnte die Fluthilfe von FeG und BEFG viele Betroffene mit Soforthilfen finanziell unterstützen. Ein weiterer Schwerpunkt war von Anfang an die Seelsorge. Dazu wirkte die Fluthilfe beim Aufbau eines Beratungsnetzwerkes mit, über das Betroffene seelsorgliche und psychologische Hilfe erhalten konnten. Im Januar 2022 wurde ich als pastoraler Fluthilfe-Seelsorger ins Flutgebiet (Schwerpunkt Ahrtal) entsandt. Hier war ich im Rahmen der aufsuchenden Seelsorge im Katastrophengebiet unterwegs, habe Betroffene begleitet und sie nach Bedarf an Beraterinnen und Berater unseres Beratungsnetzwerkes vermittelt.
Eine besondere Zeit geht zu Ende
Mit dem Ende der Fluthilfe von FeG und BEFG endet nun auch mein Dienst. Derzeit absolviere ich Abschiedsbesuche und ziehe damit ganz bewusst einen Schlussstrich unter diesen für mich besonderen Auftrag. Das fällt mir nicht leicht, denn nach zweieinhalb Jahren intensiver Begleitung durch Freud und Leid sind viele tiefe Beziehungen entstanden. Dass die Menschen sich so geöffnet und mir erlaubt haben, an ihrem Verlust und Schmerz Anteil zu nehmen, ist für mich ein besonderes Privileg und nicht selbstverständlich. Ich erinnere mich an viele tiefgehende und ehrliche Gespräche. Angesichts einer solch dramatischen Erfahrung, in der das bisherige Leben zutiefst erschüttert wurde, gibt es nichts mehr zu beschönigen. Im Ausnahmezustand wird es existenziell und die Prioritäten reduzieren sich auf das Wesentliche. Inmitten der Verzweiflung, Trauer und vielen Tränen hat mich aber überrascht, wie oft wir auch gelacht haben. Komik und Humor, und sei es sarkastischer Galgenhumor, gehören ebenfalls zur Bewältigung dieser schweren Erfahrungen, denn sie haben etwas Befreiendes. Abschiede tun bekanntlich weh. So blicke auch ich mit Wehmut auf mein Dienstende. Das betrifft die vielen Menschen, die ich auf ihrem schweren Weg der Flutbewältigung begleiten durfte. Das betrifft aber auch die zutiefst sinnstiftende Aufgabe. Trotz allem Schweren war es für mich persönlich sehr erfüllend, in der Not helfen zu dürfen. Bei allem Wehmut ist mir aber bewusst, dass eine solche Tätigkeit befristet sein muss, denn in einer Katastrophe zu helfen, bedeutet, sich selbst überflüssig zu machen. Sobald die akute Notlage überwunden ist und die Umstände sich so weit stabilisiert haben, dass die Menschen sich wieder selbst helfen können, wird es Zeit, die Hilfe einzustellen. Ansonsten besteht die Gefahr von Abhängigkeiten oder übergriffigem Verhalten. Sinnbildlich dafür steht für mich eine Umarmung. Zu einer tröstenden Umarmung gehört auch das Loslassen, ansonsten wird die Umarmung zu einer gewaltvollen Umklammerung.
Zwischen Fortschritten und Frust
Die Flut und ihre zerstörerischen Folgen sind allerdings noch lange nicht bewältigt. Während die Schäden in NRW weitestgehend behoben sind, kämpfen die Menschen im Ahrtal immer noch mit den Folgen. Dass der Wiederaufbau nach einer so immensen Zerstörung dauert und es viele Probleme geben würde, damit hatte man gerechnet. Leider war und ist die Bewältigung für viele aber noch belastender als befürchtet. „Die Flutnacht war schlimm, aber was wir danach erlebt haben, war viel schlimmer“, höre ich immer wieder. Neben der Trauer um den immensen Verlust war es anfangs die Perspektivlosigkeit, weil viele nicht wussten, wie es nach der Flut weitergehen sollte. Dann gab es zermürbende Stillstandzeiten, in denen gewartet wurde: auf Gutachten, Versicherungen, Baugenehmigungen, Handwerker und vieles mehr. Aber auch beim Wiederaufbau gibt es Rückschläge und Enttäuschungen. Ich erinnere mich an viele Gespräche, in denen Betroffene frustriert von ihren Erfahrungen erzählt haben. „Anfangs habe ich mich gefreut, wenn die Handwerker kamen, weil es dann endlich weiterging“, erzählt mir eine Frau. „Heute kann ich mich auch darüber nicht mehr freuen, weil ich nur darauf warte, dass wieder etwas schiefgeht.“ Diese Spannung zwischen Hoffnung und Resignation ist noch an vielen Stellen spürbar. Dazu kommt die Erschöpfung. „Wir sind alle um zehn Jahre gealtert“, höre ich immer wieder. Die Lage ist immer noch sehr komplex und die Fortschritte variieren stark. Gott sei Dank sind die meisten Menschen, die ich begleiten durfte, bereits in ihre sanierten Häuser zurückgekehrt. Einige wenige sind noch im Aufbau und warten darauf, demnächst einziehen zu können. Fast alle sind allerdings noch mit Restarbeiten beschäftigt. Die Rückkehr ins Zuhause bedeutet, endlich anzukommen. Es ist das Ende der provisorischen Umstände und der Beginn einer neuen Normalität. Damit einher gehen ein geregelter Alltag und verlässliche Verhältnisse. Trotz aller Herausforderungen beim Wiederaufbau sind die Menschen dankbar, dass sie es nun endlich (bald) geschafft haben. Die meisten freuen sich auf den neuen Anfang, viele tun sich mit dem Neuen aber auch schwer und vermissen ihr altes Zuhause. Für mich persönlich ist dieser Übergang ein sinnvoller Zeitpunkt, die Fluthilfe-Seelsorge zu beenden, denn damit endet der Bedarf der spontanen aufsuchenden Seelsorge.
Wiederaufbau – auch innerlich
Damit sind die psychischen Folgen allerdings noch lange nicht bewältigt. So bleibt der Bedarf an psychosozialer Hilfe noch lange bestehen, verändert sich aber. Begleitend sind Seelsorgeangebote weiterhin wertvoll und hilfreich. Zur Aufarbeitung der psychischen Folgen sind aber Therapien notwendig, die auch von vielen in Anspruch genommen werden. Leider hat die angespannte Lage manche Konflikte ausgelöst. Das ist angesichts der tiefgreifenden Veränderungen, die die Menschen verkraften müssen, mehr als verständlich. Die Frage ist nur, wie diese Konflikte konstruktiv gelöst werden können. Hier braucht es meines Erachtens Mediationsangebote. Um den Zusammenhalt in den Ortschaften zu stärken und das gemeinsame Verarbeiten der Flut zu fördern, sind mittlerweile einige Projekte (z. B. Stammtische, Kaffeetrinken, Gartenprojekte u. a.) entstanden. Im Rahmen der Quartiersarbeit sind weitere geplant. Bei meinen Abschiedsgesprächen bewegen mich vor allem zwei Fragen, über die ich mich mit Flutbetroffenen austausche. Was war in der Flutbewältigung hilfreich? Was war nicht hilfreich? Ein Betroffener hat beide Fragen treffend mit einem Wort beantwortet: „Menschen.“ Ob Familie, Freunde, Einsatzkräfte der Blaulichtfamilie oder die unzähligen freiwilligen Helfer, hilfreich waren die Menschen, die da waren und selbstlos geholfen haben. Darin sind sich alle, die ich befragt habe, einig. Ihre Dankbarkeit ist ungebrochen und immer wieder höre ich die Aussage: „Ohne die vielen freiwilligen Helfer hätten wir es nicht geschafft.“ Hilfreich waren Menschen, die in einer unaufdringlichen und demütigen Haltung zugehört und ehrlich Anteil genommen haben. Hilfreich waren auch die Menschen, die gebetet und gespendet haben. Nicht hilfreich dagegen waren Menschen, die nicht zuhörten und stattdessen viele „kluge“ Kommentare von sich gaben. Nicht hilfreich waren Menschen, die große Versprechungen machten, sie aber nicht einhielten. Nicht hilfreich waren Menschen, die einer eigenen Agenda folgten und damit übergriffig wurden. Nicht hilfreich waren Menschen, die sich auf dem Rücken der Betroffenen als Helden feierten oder ihre Not populistisch missbrauchten. Nicht hilfreich waren Menschen, die nicht akzeptieren wollten, dass ihre Hilfe nicht hilfreich ist. Ihre vermeintlich tröstliche Umarmung wurde für die Betroffenen zu einer unangenehmen Umklammerung.
Die Hilfsbereitschaft geht weiter
Während ich diese Zeilen schreibe, kämpfen das Saarland, Bayern und Baden-Württemberg mit den Folgen von schweren Überflutungen. Fast drei Jahre nach der Flut wecken diese Bilder schreckliche Erinnerungen. Aus schmerzhafter Erfahrung wissen wir, was den Menschen nun bevorsteht und wie lange es dauern kann, bis die Flutschäden beseitigt sind. Gleichzeitig ist es so hoffnungsvoll zu sehen, wie viele Menschen sich wieder auf den Weg machen, um in der Not beizustehen und zu helfen. Die Auseinandersetzung mit den Nöten der Flutbetroffenen und ihren schrecklichen Leidgeschichten hat mich sehr geprägt. Ausgelöst durch diese Erfahrung bewegt mich die Frage, wie unsere Gemeinden den Nöten um uns herum begegnen können. Dabei muss es keine Katastrophe sein, es gibt so viele andere Nöte, die die Menschen belasten. Ich bin überzeugt: Da, wo wir uns diesen Nöten stellen, dient es nicht nur dem Wohl der Notleidenden, es dient auch uns, weil es unserer Bestimmung entspricht. Darin sehe ich eine wesentliche Sprachform der Gemeinde und Ausdruck gelebter Nachfolge. Christus selbst ist zu den Bedürftigen gegangen, um ihren Nöten zu begegnen. Dafür braucht es keine großen Visionen und Konzepte, meist reicht es einfach, da zu sein, zuzuhören und auszuhalten. Dann braucht es auch nicht viele Worte, Dasein und Zuhören ist oft die heilsamste Predigt. Entscheidend ist die Haltung und ob es hilfreich ist – das vermutlich ist die wichtigste Erkenntnis, die ich aus der Fluthilfe-Seelsorge mitnehme. Auch wenn es nicht immer einfach war und ich mit manchen herausfordernden Umständen konfrontiert wurde, verlasse ich die Fluthilfe mit großer Dankbarkeit und erfüllt mit vielen wertvollen Erfahrungen und Eindrücken. Im Namen der Fluthilfe von FeG und BEFG und der betroffenen Menschen in den Flutgebieten danke ich herzlich für alle Gebete, die vielen Spenden und die seelsorgliche und praktische Unterstützung.
Ein Artikel von Klaus Haubold