Unbequemes: Bitte streichen!?
Seelsorge und Gemeindezucht
„Sollte dieser Abschnitt nicht endlich umgeschrieben werden? – „Das mit der Gemeindezucht haben wir doch hoffentlich längst hinter uns!“ – „Seelsorge ist annehmend und nicht ausgrenzend!“ Wie kann „Gemeindezucht“ in einem Zug mit Seelsorge heute noch in einem Glaubensbekenntnis vorkommen?
Der Abschnitt zu „Seelsorge und Gemeindezucht“ ist derzeit der umstrittenste in der „Rechenschaft vom Glauben“ (RvG). Dabei wirft vor allem der zweite Teil Fragen auf.
Im ersten Absatz geht es um die Seelsorge in der Gemeinde. Diese wird zunächst in ihrer umfassendsten Form beschrieben: Menschen, die in der geistlichen Gemeinschaft der Gemeinde Jesu leben, sind füreinander da. Sie trösten und ermutigen einander. Sie beten füreinander. Sie teilen Freuden und Ängste miteinander: „Einer trage der anderen Last“ (1. Petr 4,10f.; Gal 6,2). Das geschieht in der Gemeinde, weil sie Gemeinde Jesu ist. Gemeinde ist von Christus gesetzt als heilende Gemeinschaft, als ein Ort, der zum Leben und zur Nachfolge befähigt. Darum ist ein ganzer Abschnitt in der RvG der Seelsorge gewidmet. Es geht um Ermutigung, um Trösten, um Zurechtbringen. Gemeinde Jesu ist Lebens-Ermöglicherin.
Doch dann: Bitte streichen! Das ist vielfach die erste Reaktion, wenn jemand den zweiten Absatz, in dem es um Gemeindezucht geht, liest. Darf man denn über einen Menschen und seinen Glauben urteilen? Darf man jemanden aus der Gemeinde ausschließen?
Viele Ältere erinnern sich daran, dass noch in den 1970er Jahren, als die RvG formuliert wurde, Gemeindezucht häufig dann praktiziert wurde, wenn es um Fragen von Liebe und Sexualität ging. So mussten sich damals noch vielfach Paare, die unverheiratet ein Kind erwarteten, vor der Gemeinde entschuldigen. Zusammenleben ohne Trauschein hatte häufig den Ausschluss aus der Gemeinde oder zumindest den Ausschluss aus der Mitarbeit zur Folge. Gemeindezucht wurde in der Praxis häufig sehr einseitig verstanden. Nämlich als: „Bitte streichen! Wenn Du nicht so lebst, wie wir es für richtig halten.“ Noch früher waren Ordnung und Sauberkeit zu Hause ein Kriterium für geordnetes Christsein. Heute ist das anders. Sollten wir dann diese Sätze aus der RvG nicht bitte endlich streichen?
Allerdings: Der Absatz zu Gemeindezucht ist nicht so einseitig zu lesen. Hier geht es zunächst einmal um die Frage, wie mit denjenigen Gemeindemitgliedern zu verfahren ist, bei denen der Glaube erkaltet ist. Menschen also, die schon jahrelang keinen Kontakt zur Gemeinde mehr pflegen. Hier fragen sich viele Gemeinden, spätestens beim jährlichen Überweisen der Bundesbeiträge, ab wann denn gelten kann: Bitte Streichen! Die RvG setzt ausdauerndes seelsorgerliches Bemühen voraus, also kein vorschnelles Streichen, sondern einen langen Atem, ein Mitgehen auf der „zweiten Meile“. Aber sie nimmt es auch ernst, dass manche Menschen ihrer Gottes- und Gemeindebeziehung keine Bedeutung mehr zumessen. Eine Gemeinde, die sich als von Christus zueinander und zu ihm in Beziehung gestellt sieht, wird auch eine solche Entscheidung, die mit dem inneren und äußeren Verlassen der Gemeinde verbunden ist, ernst nehmen. Das wird sich dann auch im Mitgliederverzeichnis niederschlagen. Dabei darf es nicht in erster Linie um die Beiträge gehen, sondern um die Frage nach dem Gemeindeverständnis: Als EFGs verstehen wir uns als eine – mehr oder weniger – verbindliche Gemeinschaft von Nachfolgern Jesu. Wir haben in unseren Gemeinden durchaus einen weiten Raum für die Gestaltung dieser Verbindlichkeit, aber dieser Raum endet auch. Das ist in der Regel da, wo keinerlei Kontaktwunsch mehr gegeben ist. Das „Bitte streichen!“ bleibt dennoch mit der Hoffnung und dem Gebet verbunden, dass Menschen zurückfinden in die Gemeinschaft.
Auch wenn es sich meistens um einen schmerzlichen Schritt handelt, werden viele den Gedanken noch mitdenken können, dass es auch ein Ende der Mitgliedschaft geben kann. Schwierig wird es bei folgendem Satz in der RvG: „Bei wissentlicher und willentlicher Verfehlung und Sünde gegen Gottes offenbaren Willen und dem Verharren darin kann die Gemeinde nur noch zu diesem Mittel der Gemeindezucht greifen.“ Bitte streichen! Darf man das denn tun? Und wenn ja: Wann? Sollen wir diese Sätze aus der RvG nicht endlich bitte streichen?
Noch stehen sie da. Und vielleicht ist es gut, sich mit den angeschnittenen Fragen auseinanderzusetzen. Hilfreich ist ein Blick auf die Bibeltexte, die diesem Abschnitt in der RvG zugeordnet sind: In Matthäus 18,15ff. geht es um offensichtliches Fehlverhalten – welcher Art das ist, wird nicht benannt. Dieses soll nicht breitgetreten werden, darüber soll nicht hergezogen werden, sondern der betreffende Mensch soll zur Umkehr herausgefordert werden, und zwar in geordneten Schritten. Und selbst, wenn am Ende „Bitte streichen!“ steht, dann „sei er dir wie ein Zöllner und Heide“, für den Jesus gekommen ist, damit er zurückgewonnen wird. Diese Hoffnung drückt auch die RvG sehr deutlich aus. Der Text in 1. Korinther 5,1-13 bezieht sich auf eine Beziehung, die im damaligen säkularen Umfeld als absolut schändlich galt und durch die die Gemeinde öffentlich in Misskredit gebracht worden ist. Die herangezogenen Texte reden also von öffentlich bekanntem Fehlverhalten, durch das die Gemeinde beschädigt wurde. In beiden Texten geht es schlussendlich um das Zurechtbringen und Gewinnen.
Auch im heutigen Kontext gibt es ethischen Fragen, die problematisch im Miteinander und für das Ansehen der Gemeinde sind. Die Themen haben sich geändert. Heute wird darauf geachtet, ob sich ein Christ diskriminierend verhält oder äußert – und was das für seine Mitarbeit in der Gemeinde bedeutet. Gemeinde wird sich weiterhin die Frage stellen müssen, wie verbindliche Christus-Nachfolge auch ethisch erkennbar wird. Und sie wird fragen, wie sie Menschen – sich selbst – zum Nachdenken und zur Umkehr bringt. Nicht durch Übereinander-Reden, sondern Miteinander-Reden. Nicht von oben herab, sondern, wie es die RvG ausdrückt, immer „in der Beugung darüber, nicht fest genug geglaubt und nicht innig genug geliebt zu haben“.
Bitte streichen? Es kann sein, dass dieser Abschnitt in der RvG in den nächsten Jahren überarbeitet wird. Aber die Frage nach einem heilsamen Umgang mit menschlichem Fehlverhalten und Sünde ist weiterhin zu stellen. Denn, wenn Gemeinde verbindlich in der Nachfolge Jesu lebt, dann wird sie als Lebens-Ermöglicherin in seinem Sinne leben und damit auch Menschen zurücklieben wollen. Auch das gehört zur Seelsorge.
Und dann heißt es: „Darf sich ändern!“
Einladung zum Weiterdenken
1. Wie reden wir übereinander in der Gemeinde? Und was können wir da besser machen?
2. Streichen? Oder wie lang darf unser Atem sein?
3. Welche ethisch relevanten Themen der Nachfolge stehen in unserem heutigen Denken im Fokus und wie gehen wir mit denjenigen um, die das anders sehen und leben, als wir es für gut halten?
Erschienen in: Die Gemeinde 17/2022, S. 18-19.
Ein Artikel von Andrea Kallweit-Bensel, BEFG-Präsidiumsmitglied, Pastorin, Dozentin an der BTA Wiedenest
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