„Pilgerreise der Gerechtigkeit und des Friedens“ der ACK Deutschland

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Was ich an freikirchlicher Frömmigkeit schätze

Erfahrungen eines evangelisch-landeskirchlichen Theologen

In seinem Beitrag zur Artikelserie INSPIRIERT LEBEN beschreibt Privatdozent Dr. Albrecht Haizmann, der Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in Württemberg ist, wie freikirchliche Frömmigkeit ihn bereichert.

„Schätzen“ kommt von Schatz. Ein Schatz ist etwas Wertvolles. Etwas zu schätzen bedeutet, es nicht nur distanziert als wertvoll zu betrachten oder bewertend einzustufen, sondern persönlich als bereichernd zu empfinden.

Der Schatz ist das Evangelium von Jesus Christus. Unser gemeinsamer Schatz. Er gehört keiner einzelnen Kirche, keiner einzelnen Gemeinde, keinem einzelnen Menschen. Dieser Schatz ist für alle. Von Gott. Als Menschen empfangen und haben und verschenken wir ihn – „in irdischen Gefäßen“. So gewinnt Christus Gestalt. Zum Beispiel in Form unserer besonderen Frömmigkeit.

Was ich an freikirchlicher Frömmigkeit schätze, beruht auf persönlichen Begegnungen und Erfahrungen mit Menschen. Mit Geschwistern im Glauben. Mit Christen, die nicht wie ich einer evangelischen Landeskirche, sondern eben einer Freikirche angehören. Was an diesen Erfahrungen und Beziehungen bereichernd ist, betrifft längst nicht nur die Spiritualität. Aber doch auch.

Was schätze ich an freikirchlicher Frömmigkeit? Zunächst einmal, dass es „die“ freikirchliche Frömmigkeit gar nicht gibt, sondern eine ganze Palette von Freikirchen und darin jeweils eine große Vielfalt von Bewegungen, Richtungen und Prägungen der Frömmigkeit. Das allein ist schon bereichernd. Ich schätze, ich mag diese Vielfalt.

An freikirchlicher Frömmigkeit schätze ich deshalb vor allem, dass sie verschiedene Facetten reformatorischen Christentums exemplarisch umsetzt. Und zwar ganz bestimmte: Teils sind es vergessene oder verdrängte Aspekte reformatorischer Theologie. Teils sogar ganze reformatorische Bewegungen, die vom Mainstream der Reformation unterdrückt wurden und sich – jedenfalls hier bei uns – erst Jahrhunderte später in Freiheit entfalten durften. Vielleicht deshalb erscheint mir die freikirchliche Frömmigkeit auch irgendwie jung.

Charakteristisch für diese besonderen freikirchlichen Akzente der reformatorischen Frömmigkeit ist für mich die große Freiheit und Ursprünglichkeit, mit der sie biblische Impulse und urchristliche Ideale für den Glauben der Einzelnen ernst nehmen, in das Leben der Gemeinden aufnehmen – und so im besten Sinne evangelisch sind.

Besonders schätze ich die reiche Entfaltung des Dritten Glaubensartikels in der freikirchlichen Frömmigkeit. Die erfahrbare Lebenskraft des Heiligen Geistes, seine Gaben und Wirkungen werden hier nicht nur gelehrt, sondern in vielfältiger Weise auch gelebt.

Die Gemeinschaft der Heiligen, das Leben in und das Streben nach Heiligung, der Ernst der Nachfolge Jesu und die Ausrichtung des Lebens auf seine Wiederkunft – all das gehört zum Wesen des christlichen Glaubens. Das wissen alle Kirchen. Aber in den verschiedenen Freikirchen begegnet es mir in besonders prägnanter Gestalt. Hier ist der Dritte Artikel Programm. Hier wird mit persönlicher Entschiedenheit und hoher Verbindlichkeit nach urchristlichen Idealen gelebt und gestrebt. Die Frömmigkeit selbst, ein Leben im Glauben, ist das Ziel. Nicht umsonst hat man den Freikirchen „programmatische“ – ideologieverdächtigende – Schimpfnamen gegeben: Methodisten, Baptisten, Pfingstler.

Dass dies keine einseitige Vernachlässigung der anderen beiden Glaubensartikel bedeuten muss, weiß jeder, der die Logik des Glaubensbekenntnisses kennt und versteht: dass der Zugang zum ersten und zweiten durch den dritten Artikel hindurch führt. Wer aber auch nur ein paar Menschen aus den Freikirchen kennt, weiß es auch. Dazu muss man keine großen Namen nennen, wie etwa John Wesley, Martin Luther King oder Mary Webb. Im freikirchlichen Gesamtbild zeigen es die Herrnhuter mit ihrer besonderen Kreuzesfrömmigkeit oder die Mennoniten mit ihrem Engagement für Frieden und Schöpfungsbewahrung und die Heilsarmee mit sozialer Verantwortung.

Was ich daran schätze, ist jedoch nicht die (in den Landeskirchen oft allzu große) Ausgeglichenheit, sondern gerade die aus evangelischen Bewegungen der Frömmigkeit hervorgegangene Zuspitzung. Jede Freikirche – und ihre Kirchenfamilie – hat etwas Besonderes aus unserem gemeinsamen Schatz, das sie hochhält, das sie wachhält, und das wiederum sie selbst antreibt und prägt.

So ist es für mich bereichernd, dass freikirchlich-evangelische Frömmigkeit mit landeskirchlich-evangelischer Frömmigkeit einerseits selbstverständlich Gemeinschaft haben kann, andererseits jedoch nicht in ihr aufgeht. Beide können voneinander profitieren, einander auch heilsam relativieren, ohne ihre je eigene Frömmigkeit aufgeben zu müssen. Beide haben einander etwas zu geben, das ganz nahe beim Eigenen liegt – aber vielleicht auf der anderen Seite der Medaille.

Dass sie die Religionsfreiheit auf vielerlei Weise in Anspruch nehmen, ausprobieren, ausbreiten und hochhalten, gefällt mir besonders an den Freikirchen. Dem entspricht eine Frömmigkeit, die sich staatlichen Vorgaben gegenüber eigene Freiräume und auch gesellschaftlichen Konventionen oder dem Zeitgeist gegenüber bewusst ihre Unabhängigkeit bewahrt.

Dass andererseits viele Freikirchen so unbefangen moderne Medientechnik, populäre Musik oder zeitgemäße Formen und Gestalten des Gottesdienstes in ihr Gemeindeleben aufnehmen, ist mir gleichermaßen sympathisch. Zu dieser Aufgeschlossenheit für „neue Schläuche“ gehört nicht selten auch eine Offenheit für die weltweite Vielfalt der Sprachen und Kulturen dazu. Sie speist sich aus der internationalen und ökumenischen Verbundenheit in den oft weltweit verbreiteten Freikirchen.

Hat „schätzen“ – wenn auch nichts Distanziertes – vielleicht doch etwas Gebremstes, Reserviertes an sich? Man schätzt einen verdienten Mitarbeiter, einen anständigen Geschäftspartner. Aber im Glauben verbindet uns das Band der Liebe. Hier ist kein Platz für vornehme Zurückhaltung. Im Rückblick kann ich nur sagen: Vieles von dem, was ich aufgezählt habe, schätze ich nicht nur, nein ich mag, ich liebe es an der freikirchlichen Frömmigkeit!

Privatdozent Dr. Albrecht Haizmann ist Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Baden-Württemberg (ACK).

Ein Artikel von Dr. Albrecht Haizmann