Wie sieht es eigentlich an der Ahr aus?

Nicht aufgeben und die Hoffnung bewahren

Klaus Haubold, der gemeinsam vom Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) und dem Bund der Freien evangelischen Gemeinden (Bund FeG) als Seelsorger für die Menschen im Ahrtal angestellt ist, gibt in diesem persönlichen Bericht Einblick in die Geschichte einer Familie.

Wie sieht es eigentlich an der Ahr aus? Diese Frage höre ich immer wieder und jedes Mal ringe ich um eine angemessene Antwort, denn für eine kurze Schilderung ist die Lage zu komplex. Allein im Ahrtal sind 9.000 Häuser beschädigt oder zerstört worden. Dazu kommen noch die anderen betroffenen Gebiete in unserer Region. Und wenn ich eines in der Fluthilfe-Seelsorge gelernt habe, dann ist es dies: Jedes Schicksal steht für sich.

„Wir alle sitzen im selben Boot“, höre ich immer wieder. Das stimmt, denn alle sind betroffen. Die Erfahrungen der schrecklichen Flutnacht jedoch sind einzigartig. Das gilt auch für den schweren Weg der Bewältigung. Die Probleme und Herausforderungen gleichen sich oft, dennoch kämpfen, trauern und verarbeiten alle auf ihre individuelle Weise. Statt also eine allgemeine Antwort zu versuchen, erzähle ich von der Flut und ihren schrecklichen Folgen aus Sicht einer betroffenen Familie.

In den Wetterberichten wurde vor einer drohenden Extremwetterlage gewarnt, aber mit einer so verheerenden Flut hat Familie Gasper aus Altenburg nicht gerechnet. Da es auch von behördlicher Seite keine Katastrophenwarnung gab, gingen sie vom üblichen Ausmaß aus, denn vereinzelte Überflutungen sind sie an der Ahr gewohnt. „Wir leben damit“, sagt Maternus. Zusammen mit seiner Frau Gabriele und seinem körperlich und geistig beeinträchtigten Bruder Peter wohnten sie etwa fünfzig Meter von der Ahr entfernt in ihrem über 100 Jahre alten Backsteinhaus. Daran angeschlossen war die über 130 Jahre alte Familienbäckerei, die Maternus in vierter Generation führte.

Maternus und Gabriele

Backsteinhaus

Maternus, Peter und Klaus

Am 14. Juli 2021 trinken sie in ihrem Innenhof noch ihren Nachmittagskaffee, die Ahr dabei stets im Blick. Am frühen Abend steigt das Wasser plötzlich schlagartig an. Schnell packen sie etwas zu essen und zu trinken ein, um sich hinterm Haus auf den Hang zu retten. Doch es ist zu spät, der Hinterhof ist schon überflutet und der Weg abgeschnitten. So bleibt ihnen nur noch die Flucht nach oben ins Dachgeschoss. Als das Wasser auch das Dachgeschoss zu fluten droht, rufen sie verzweifelt um Hilfe. Ihr Nachbar Theo Frisch, ein Bundeswehrsoldat, hört ihre Schreie und handelt kurzentschlossen. Mit seinem Kanu hatte er schon fünf Menschen gerettet. Wieder riskiert er sein eigenes Leben und kommt ihnen – trotz der Dunkelheit, der reißenden Strömung und der umher schwimmenden Trümmerteile – zu Hilfe. Zusammen mit Gabriele und Peter versuchen sie mit dem Kanu den rettenden Hang zu erreichen. Maternus bleibt zunächst zurück, da nicht genug Platz ist. Dann passiert das Unglück, das Kanu kentert und sie gehen in den Fluten unter. Während Theo Frisch nach Peter taucht und ihn zu retten sucht, kann Gabriele nach einiger Zeit selbst wieder auftauchen. Mit letzter Kraft gelingt es ihnen, sich auf ein anderes Hausdach zu retten, auf dem sie bis zum nächsten Morgen ausharren. Maternus überlebt die Flut auf dem Speicher seines Hauses, obwohl es fast komplett zerstört und einsturzgefährdet ist. Am nächsten Morgen können sie endlich gerettet werden.

Die Flut überlebt zu haben, ist ein Wunder, darin sind sich alle Beteiligten einig. „Als ich unterging habe ich gebetet“, erzählt Gabriele. Eigentlich hätte sie es nicht schaffen können, da sie viel zu lange unter Wasser war und auch viel Wasser geschluckt hatte. Als gläubige katholische Christen sind Gabriele und Maternus überzeugt, Gott hat sie in dieser schrecklichen Nacht bewahrt. Für seinen Einsatz wurde Theo Frisch mittlerweile von der Bundeswehr ausgezeichnet.

Tragischerweise ist Gabriele etwa ein Jahr nach der Flut nach kurzer schwerer Krankheit verstorben. Auch das erlebe ich in der Fluthilfe-Seelsorge immer wieder. Zur ohnehin schon sehr schweren Flutbewältigung kommen weitere Schicksalsschläge dazu. „Warum rettet Gott sie aus der schrecklichen Flut und holt sie kurze Zeit später dann doch?“ Diese Frage hat uns in unseren Gesprächen immer wieder bewegt. Wir finden darauf keine Antwort, aber Maternus findet Trost darin, dass sie noch ein Jahr hatte, um von ihrer bewegenden Geschichte erzählen zu können. Eigentlich war sie sehr introvertiert und redete nicht viel, aber die Fluterfahrung und das erlebte Wunder ließen sie – auch zum Erstaunen vieler Altenburger – aufblühen und aus sich herauskommen. In zahlreichen Interviews haben Gabriele und Maternus so ihre Geschichte erzählen und dabei immer wieder auch auf Gott hinweisen können.

Bei aller Dankbarkeit über die Bewahrung schmerzt der furchtbare Verlust sehr. Maternus hat alles verloren, zuletzt auch seine Frau. Von seinem früheren Leben ist kaum noch etwas übrig. Das auszuhalten und irgendwie zu verkraften, ist schon schwer genug. Noch schwerer ist es aber, sich ein neues Leben aufzubauen. „Die Flut war schlimm, aber die Bewältigung ist viel schlimmer“, höre ich oft. Wie bei vielen Betroffenen ist der Wiederaufbau auch bei Maternus mit vielen Hürden, Enttäuschungen und Rückschlägen verbunden. So ist es für ihn ein besonderer Moment, als der Bagger anrollt. Endlich kann es losgehen, aber bis das neue Zuhause steht, dauert es noch.

Nicht aufgeben und die Hoffnung nicht verlieren, ist für viele ein täglicher Kampf. Das kennt auch Maternus nur zu gut. Er findet Trost und Kraft in seinem Glauben, aber sein Weg ist sehr schwer. Alle zwei Wochen treffen wir uns und reden über das, was gerade anfällt. „Die Gespräche tun mir gut“ sagt er. „Ihr seid da, hört zu, tragt unser Leid mit und helft dabei, das Erlebte zu verarbeiten. Damit nicht allein zu sein, ist für uns so wichtig.“

Das ist nur eine von vielen Flutgeschichten und es gäbe aus der Fluthilfe-Seelsorge noch so viel mehr zu berichten. Neben meiner aufsuchenden Seelsorge werden aus dem Fluthilfetopf des Bundes FeG und des BEFG noch andere Seelsorge- und Therapie-Angebote finanziert. Dazu kommen verschiedene Fluthilfe-Projekte des Vereins Hoffnungswerk. Danke für alle Spenden, die diesen wichtigen Dienst ermöglichen! Bitte betet weiter für die Betroffenen, denn vor uns liegt noch ein weiter Weg!

Ein Artikel von Klaus Haubold