Foto: Wort zum Sonntag vom 15.09.2001

„Wohin sich wenden?“

NineEleven. Erschütterung und die Suche nach Worten

Im persönlichen Rückblick auf dieses immer noch unfassbare Ereignis erzählt Pastorin Andrea Schneider, damalige „Wort zum Sonntag“-Sprecherin, von ihrer Suche nach Worten in aller Sprachlosigkeit. Und sie fragt: Was trägt, wenn alles zusammenbricht?

„Wo warst du am 11. September 2001?“ Fast jede, jeder kann eine Geschichte dazu erzählen.
Meine geht so: Als Rundfunkbauftragte der Ev. Freikirchen (VEF) war ich an diesem Dienstag auf einer Sitzung der VEF-AG „Hörfunk und Fernsehen“. Thema war, (frei-)kirchliche Beiträge in den Medien so zu gestalten, dass sie nicht „fromm“ am Erleben und Empfinden von Zeitgenossen vorbeireden, sondern „aktuell“ deren Fragen und Zweifel aufnehmen. Niemand von uns ahnte da, wie unglaublich herausfordernd dies so bald werden würde …

Als die Sitzung gegen 15:00 endete, liefen wir Delegierte im Foyer des Tagungshauses an einem Fernseher vorbei. Da prallten uns die Bilder der von Flugzeugen durchschnittenen, brennenden Twin Towers entgegen. Fassungslose Erschütterung. Ungläubige Sprachlosigkeit. Zugleich Wörterfülle auf allen Kanälen.

Kaum im Auto auf der Rückfahrt, klingelte mein Telefon. Der leitende Redakteur „Religion und Gesellschaft“ bei Radio Bremen: „Sie haben es schon mitbekommen?“

Ja, klar. Meine Ideen für ein „Wort zum Sonntag“ zum Welt-Kindertag in der darauffolgenden Woche – nichtig. Die schöne Geschichte, wie Jesus kleine Kinder in die Mitte der Erwachsenen stellt und sie segnet – unpassend schön angesichts der grauenvollen Bilder dieses menschenverachtenden Terrors.

Aber was kann Kirche – und das „Wort zum Sonntag“ ist ihre wichtigste Verkündigungssendung – in dieser Situation „verkündigen“?

 „Frau Schneider, was trauen Sie sich am Samstag in die Kamera zu sprechen? Denken Sie sich was aus! Bin gespannt!“ Ich erinnere mich gut an den wie üblich kritischen, aber da auch mitfühlenden Tonfall des Redakteurs.

Mein Kopf – voll. Unzählige Nachrichtensendungen und Kommentare. Mein Blatt Papier – leer. Was im „Wort zum Sonntag“ sagen, was nicht schon zig Mal vorher viel sachkompetenter geäußert worden wäre? Mein Herz – aufgescheucht. Mir war klar: Wenn ich vor die Kamera trete, dann muss ich das persönlich tun. Ich als ich, erschüttert wie die Millionen Menschen, die mir bald zuhören sollten – einzeln, irgendwo in einem Wohnzimmer.

Am Freitag wieder ein Anruf des Redakteurs: „Ich habe eine Idee. Wie wär's, wenn Sie ein Gebet sprechen? Das können Sie doch: beten. Gab's bisher so nicht im „Wort zum Sonntag“, aber....“

Ich war überrascht und beschämt zugleich: Diese Idee – nicht von mir, der Christin, Pastorin, sondern von ihm, dem kritisch-atheistischen Journalisten!
Dabei doch eigentlich so naheliegend: Wohin sich wenden, wenn alles zusammenbricht – wenn nicht an den, der auch in der tiefsten Tiefe ansprechbar bleibt? Seit Urzeiten für verzweifelte Menschen in den Psalmen. Für den gottverlassenen Jesus am Kreuz. Dann doch auch für uns heute. Auch im Fernsehen.

Endlich konnte ich meine Gefühle und Gedanken in Worte fassen. Bewusst erst sehr kurz vor Ausstrahlung wurde die Sendung produziert. Schlagen die USA noch zurück? Anspannung im Studio.

Während meines Gebets zeigte die Kamera nur ein aus Weiden geflochtenes Kreuz. Und statt mit dem ARD-vorgegebenen perlenden Vor- und Abspann wurde das „Wort zum Sonntag“ eingerahmt von je drei tiefen, harten Glockenschlägen. Ausnahmesituation.

Viele Reaktionen erreichten mich danach, z.B.: „Ihre schlichten Worte, ihr Gebet haben meine Erstarrung gelöst.“ Oder: „Habe immer noch unendlich viele Fragen. Aber jetzt auch einen Ort dafür!“

Auch heute, 20 Jahre nach diesem „Wort zum Sonntag“, angesichts so viel neuen Schreckens und seiner Bilder, habe ich letztlich nicht viel mehr Worte als diese drei: „Herr, erbarme dich!“

Aber diese Bitte hat Kraft. Sie trägt.


Wort zum Sonntag:

Guten Abend!

Wohin sich wenden am Ende dieser Woche?

Wohin mit dem Entsetzen,

das uns auch heute noch immer wieder packt

und sprachlos macht?

Wohin mit diesen grauenhaften Bildern,

die vielen auch nachts nicht aus dem Kopf gehen?

Wann und wo und wie wird zurückgeschlagen?

Was kommt da noch auf uns zu mit welchen Folgen?

Meine Kinder fragen mich: Kommt jetzt Krieg?

Wohin sich wenden?

Hunderttausende sind in diesen Tagen auf die Straßen gegangen –

wie gestern zum Brandenburger Tor - und in die Kirchen.

Wir haben Kerzen angezündet.

Als Zeichen der Anteilnahme. Und als stillen Protest gegen Terror und Gewalt.

Wir haben gespürt: Wir sind miteinander verbunden.

Viele haben gebetet. Vielleicht nach langer Zeit mal wieder.

Vielleicht auch ohne so recht zu wissen, zu wem sie da reden.

Ich glaube daran, dass Gott diese vielen Gebete hört.

Und er hört uns auch, wenn wir keine Worte haben.

Denn er leidet diesen unsagbaren Schmerz mit.

Dafür steht das Kreuz Christi. Es steht für bitterste Gewalt.

Für brutalen, ungerechten Tod. Für die Macht des Bösen, die scheinbar siegt.

Aber: Das Kreuz ist auch ein Ort des Trostes.

Und der Hoffnung, dass nicht Gewalt und Attentäter den Sieg davontragen.

Sondern das Leben. Gottes Liebe zu seiner Welt.

So wende ich mich mit all den Gefühlen und Gedanken aus dieser Woche zum Kreuz.

Vielleicht möchten Sie mit mir beten:

 

Herr Jesus Christus! Warum? Warum dieses Grauen, dieser teuflische Hass? 

Wo warst du, Gott?

Dass all die Menschen in den Flugzeugen, in den Türmen, im Pentagon,

nicht tiefer gefallen sind als in deine Hand – das hoffen wir.

Einige haben auch für uns einen Namen bekommen, ein Gesicht,

eine Geschichte, die unter die Haut geht.

Wir flehen dich an, sei jetzt bei den Trauernden. 

Sei bei ihnen, wenn sie sich noch immer an eine winzige Hoffnung klammern. 

Wenn sie fast verrückt werden vor Schmerz.

Schick ihnen Engel zur Seite, die mit ihnen aushalten.

Wir bitten dich für die Rettungskräfte und Helfer.

Beschütze sie. Lass sie nicht verzweifeln.

Wir beten für die, die Verantwortung tragen für das, was jetzt geschehen soll.

Wir haben Angst.

Wenn jetzt in Amerika die Vergeltung geplant wird,

dann gib klare Gedanken und die Kraft zur Besonnenheit.

Lass nicht zu, dass sich die Spirale der Gewalt noch weiter dreht.

Lass nicht zu, dass noch mehr Unschuldige leiden -

nur, weil sie muslimischen Glaubens sind.

 Wir bringen zum Kreuz unsere Sehnsucht nach Frieden und nach Gerechtigkeit.

Und wir bitten am Ende dieser Woche, am Abend dieses Tages:

Kyrie eleison – Herr, erbarme dich.

Abgedruckt in DIE GEMEINDE 18/2021 vom 5. September, S. 12-13.

Ausführlicher spricht  Andrea Schneider dazu in der Sendung „Am Sonntagmorgen“ am 12. September 2021 um 8:35 Uhr im Deutschlandfunk.

Ein Artikel von Andrea Schneider