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Zwischen Wespennest und Honigwabe

Zum Abschnitt „Ehe und Familie“ in der Rechenschaft vom Glauben

Erwartet hatte ich ein Wespennest: Mit dem Thema „Ehe und Familie“ habe ich mich in ein aufgeheiztes Debattenfeld gewagt. Im Abschnitt der Rechenschaft vom Glauben (RvG) dazu habe ich aber ganz anderes gefunden: Die Freude über gute Gaben Gottes und die Ermutigung, sie in Liebe und mit positiver Ausstrahlung für andere zu gebrauchen.

Vier Absätze widmet die RvG diesem Thema. Und auch wenn sich in den bald 50 Jahren seit Entstehung der RvG gesellschaftlich vieles verändert hat: Unser Bekenntnis fragt auf immer noch inspirierende Weise, wie die Gestaltung von Ehe und Singlesein, Sexualität und Familienleben Reich Gottes atmen kann.

Der eröffnende Abschnitt würdigt die Ehe als beispielhaften Rahmen für ein mitmenschliches Leben nach Gottes Willen. Ehepaare seien dazu berufen, ihre Beziehung in Liebe und lebenslanger Treue, in gegenseitiger Achtung und Annahme zu gestalten. „Einer achtet den anderen höher als sich selbst und nimmt ihn an, wie Christus ihn angenommen hat.“ Die Wortwahl ist an Philipper 2,3 angelehnt, am Rand wird aber auf Epheser 5,25 verwiesen: „Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie auch Christus die Gemeinde geliebt hat und hat sich selbst für sie dahingegeben“. Die entsprechende Mahnung an die Frauen in Epheser 5,22 wird nicht genannt: „Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn.“ In dieser Lücke leuchtet die Frage auf, die uns bis heute beschäftigt: Welche biblischen Sichtweisen auf Ehe und Familie sind zeitbedingt, welche zeigen Gottes grundlegenden Willen? Die hierarchische Gesellschaftsordnung, die in neutestamentlichen Briefen aufgegriffen wird (und auch „Herren und Sklaven“ umfasst), wird offenbar nicht als bleibend gültig angesehen (vgl. Gal 3,28). Vielmehr werden neben Epheser 5 noch zwei Grundlagentexte genannt, die eine Beziehung auf Augenhöhe als Ideal zeichnen: Mann und Frau sind beide als Ebenbild Gottes geschaffen (1. Mose 1,27). Zwischen ihnen soll eine innige Beziehung entstehen, in denen die Frau hochgeschätzte Hilfe (nicht „Gehilfin“) und Gegenüber des Mannes ist (1. Mose 2,18-25). Jesus erkennt in den Schöpfungs-Texten nach Markus 10,7-9 (die vierte Bibelstelle am Rand) Gottes bleibendes Ideal einer dauerhaften, liebevollen Beziehung. Damit stellt sich die Rechenschaft implizit in ein bejahendes (etwa im Hinblick auf Emanzipation) wie auch abgrenzendes (etwa im Hinblick auf sexuelle Freizügigkeit) Verhältnis zur Gesellschaft der 1970er Jahre. Heute könnte man weiterdenken: Muss man nach neueren Erkenntnissen zur Homosexualität und der Möglichkeit gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften die biblischen Texte ausschließlich auf die Verbindung von „Mann und Frau“ beziehen? Eine dieser Wespennest-Fragen. Übrigens: Jesus bezog in Markus 10 Stellung gegen die biblischen(!) Regelungen zur Ehescheidung, die er als Zugeständnisse an menschliche Hartherzigkeit brandmarkte – Gottes eigentlicher Wille sei ein anderer. Es bleiben Fragen: Wie halten wir Ideale hoch, ohne hartherzig zu werden? Wie gehen wir mit denen um, die erkennbar scheitern? (Im Umgang mit Geschiedenen gibt es in unseren Gemeinden heute eine viel größere Barmherzigkeit als früher.) Wie mit denen umgehen, die eine andere Sicht auf Gottes Willen haben, was Familienbilder oder sexuelle Orientierung betrifft?

Der zweite Abschnitt widmet sich zunächst „Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit“. Sie werden als „gute Gaben“ gelobt, die in „Liebe“ zum Partner und „Verantwortung vor Gott“ gebraucht werden sollen (vgl. 1. Kor 6,19f.). Den Kernsatz freikirchlicher Sexualethik „Kein Sex vor der Ehe“ lese ich hier interessanterweise nicht. Die Ehe wird erst im nächsten Satz erwähnt: Ehepaare werden von Gott als „Mitschöpfer neuen Lebens“ gewürdigt und haben die Verpflichtung, ihre Kinder „in Liebe und Fürsorge“ zu erziehen, ihnen zur Entfaltung zu verhelfen und den Glauben zu vermitteln (vgl. Mk 10,13-16). Die gewachsene Zahl von Alleinerziehenden, Patchworkfamilien und kinderlosen Paaren ist noch nicht im Blick, ganz zu schweigen von moderner Reproduktionsmedizin. Dennoch finde ich die Ausführungen zu verantwortlicher Sexualität und zur Bedeutung der Kindererziehung so klar und grundlegend, dass sie immer noch tragfähig sind.

Im dritten Absatz wird auch die „Ehelosigkeit“ als Lebensform gewürdigt: Sie kann als „Führung und Chance Gottes“ angenommen, gar als „Gabe“ Gottes (vgl. 1. Kor 7,7) betrachtet werden. Das entspricht dem neutestamentlichen Zeugnis, in dem die Erwartung des anbrechenden Gottesreichs zum Eheverzicht drängte – ist aber in einer Zeit vieler Single-Haushalte auf neue Weise relevant. Für alle, Ehepaare und „Ehelose“, gilt die Berufung zu einem Sozialleben  „nach dem Vorbild des Neuen Testaments in Häusern […], die offen und gastfrei für andere sind, Orte gemeinsamen Lebens in Gespräch und Feier, Arbeit und Gebet, Fürsorge und Tröstung.“ (Dafür wird auf Galater 6,2 und Hebräer 13,1-3 verwiesen, man könnte auch Lk 10,38-42, Apg 2,46; 16,40 nennen.) Für mich ein Höhepunkt unseres Abschnitts. Anstatt eigene Mängel zu bedauern, um das eigene Wohl zu kreisen oder auf andere Lebensformen zu schimpfen, werden Singles, Paare und Familien an ihren Auftrag erinnert: Mit offenem Haus und Herzen für andere da zu sein, auf die Weise, die ihnen entspricht.

Es folgt noch eine scharfe Abgrenzung gegen „[schrankenlosen] Gebrauch der Geschlechtlichkeit“. Die „Vergötzung der Geschlechtlichkeit“ sollen Christen nicht mitmachen und der (nicht benannten) Idee der „freien Liebe“ die „Freiheit der Kinder Gottes“ entgegensetzen. Die Fragerichtung dreht sich um: Nicht die Bibel, sondern die aktuelle Gesellschaft (die sexuelle Revolution der 1968er) wird befragt und anhand biblischer Impulse kritisch beleuchtet. Mit 1. Korinther 6,9ff. wird auf einen Lasterkatalog verwiesen, der u.a. „unzüchtige“ Verhaltensweisen nennt, sowie auf die folgenden Warnungen vor Sexkauf. Hier weicht die RvG nach meinem Eindruck von ihrem eigentlichen Ziel ab, Grundsätzliches und Zeitloses zu „bekennen“. So führt sie uns zu den Wespennestern: Wie beurteilen wir aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen? Prostitution und Pornographie, vielfältige sexuelle Identitäten und Genderstern: Es mangelt nicht an Diskussionsthemen. Aber so wichtig das Ringen um solche Fragen ist: Unsere eigentliche Berufung ist eine andere (vgl. die ersten drei Absätze)! Mit Jesus in Markus 10: Nicht die Frage „Was ist erlaubt“ ist entscheidend, sondern: „Wonach sollten wir streben“?

Einladung zum Weiterdenken

  • Wie möchte ich mein Singlesein, meine Partnerschaft leben, wie meine Kinder erziehen? Welche Ideale und Werte habe ich dafür? Was möchte ich aus der RvG dazu mitnehmen, womit habe ich Probleme?
  • Wo habe ich erlebt, dass Christen ihre Häuser für andere geöffnet haben (vgl. 3. Absatz)? Wie ist das aktuell bei mir, in unserer Gemeinde? Wo sehe ich Schwierigkeiten, Stärken, Chancen?
  • Allgemeiner: Welche bleibenden Schätze finde ich in diesem Abschnitt der RvG? Wo stolpere ich, wo sehe ich Änderungsbedarf?

Erschienen in: Die Gemeinde 21/2022, S.14-15.

Ein Artikel von Dr. Deborah Storek, lehrt Altes Testament an der Theologischen Hochschule Elstal

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