Vorwort Bund aktuell Nr. 7 | 1. Juli 2021

Liebe Leserin, lieber Leser,

Deutschland ist raus, zumindest aus der Fußball-Europameisterschaft. Diese Tatsache mag nun den einen oder die andere mit Wehmut erfüllen. Viele bleiben davon aber auch vollkommen unberührt. Es ist halt ein spielerischer Wettbewerb. Da wird gewonnen oder, wie nun die deutsche National-Elf, eben auch verloren. Mögen die Schweizer Europameister werden.

Irritiert haben mich allerdings die nahezu vollen Stadien mit fröhlich skandierenden Fans, die sich ausgelassen zeigen und, als Stütze für die eigene Mannschaft, nicht nur innerlich den Schulterschluss zeigen, sondern sich immer wieder in den Armen liegen. Nichts von Maskenpflicht, Abstandregeln oder anderen erkennbaren Maßnahmen zur Einhaltung bestimmter Hygienestandards.

Es ist halt Fußball und der hat offensichtlich – trotz sinkenden Zuschauerinteresses insgesamt – nach wie vor eine hohe Relevanz und eine starke und mächtige Lobby. Wir werden sehen, was diese großen Ansammlungen von Menschen bei der Europameisterschaft mit der Entwicklung der Pandemie machen.

Was mich aber tief berührt sind all die, die ohne Lobby und Interessenvertretung mit vielen Einschränkungen und Begrenzungen zu tun haben: die vielen Künstlerinnen und Künstler, die sich nach wie vor schwertun, ohne Auftritts- oder Ausstellungsmöglichkeiten; die Besitzerinnen und Besitzer kleiner Restaurants und Geschäfte, die auch ein Lieferservice oder Onlinehandel nur schwer über Wasser halten kann. Ob sie sich so nach und nach erholen werden? Was ist mit denen, die ihre Existenz verloren haben, und denen, die in ihren Berufen und in Homeschooling und Homeoffice an ihre Grenzen geraten sind?

Sicher, unser Staat hat viel getan und tut es auch immer noch. Es wird vieles wieder werden, aber eben nicht alles. Und wer setzt sich dann für die ein, die keine Lobby haben oder die durch irgendwelche Raster fallen?

Auch als Gemeinden haben wir in dieser Zeit viele Einschränkungen hinnehmen müssen. Lange konnten gar keine Gottesdienste stattfinden. Und anders als im Fußballstadion gilt es nach wie vor, Abstand einzuhalten, Masken zu tragen und vielerorts noch nicht zu singen, bestenfalls mit Maske. Langsam kommen wir wieder in Gang, aber auch hier gilt die Frage: ob sich alle wieder erholen werden?

Trotzdem ist die Situation der Gemeinde aus meiner Sicht eine besondere. Bei allen Einschränkungen des Gemeindelebens bleibt da ja unser Auftrag, den Menschen das Evangelium von Jesus Christus zu sagen und sie in eine Gemeinschaft einzuladen, in der jede und jeder willkommen und angenommen ist, ohne nach allen sonst einschränkenden oder ausgrenzenden Befindlichkeiten zu fragen.

Vor ein paar Sonntagen habe ich über den Text aus Lukas 15,1-10 gepredigt, wo es um das verlorene Schaf bzw. die verlorene Münze geht, den Hirten, der das verlorene Schaf sucht, und die Frau, die das Haus auf den Kopf stellt, um die Münze zu finden. Mir ging die ganze Zeit durch den Kopf, ob hier nicht auch ein Auftrag für die Gemeinde ist, denen nachzugehen, die in diesen Zeiten drohen verlorenzugehen. In Fußballstadien gehen die Menschen, haben offensichtlich eine tiefe Sehnsucht danach. In die Kirchen und Gemeinden gehen immer weniger. Haben wir an Bedeutung verloren, oder sind wir einfach in Vergessenheit geraten? Wäre es dann nicht an der Zeit sich aufzumachen, sich weniger Gedanken über die Rückkehr zum alten Gemeindeleben zu machen, sondern vielmehr aufzubrechen und anderen Menschen nachzugehen? Das ist bestimmt nicht die Frage nach großen Programmen, sondern ein Auftrag an Einzelne für einzelne Menschen.

Wenn wir als Gemeinden wieder starten, dann ist es bestimmt sehr schön, einander begegnen zu können und demnächst auch wieder ohne Maske singen zu dürfen und Gemeinschaft zu erleben. Aber gleichzeitig sind wir auch von Christus Berufene, die denen nachgehen, die sich und vieles verloren haben, denen eine freundliche Zuwendung guttut, für die eine vorbehaltlose Annahme ein echtes Geschenk ist. Gemeinde könnte an Relevanz gewinnen, weil sie Menschen das bieten kann, wonach sich viele sehnen: frohe Gemeinschaft, Bestätigung der Individualität und in Jesus Christus eine lebendige Hoffnung, die über jedes persönliche Schicksal und auch über eine Pandemie hinausreicht.

Michael Noss
Präsident