Vorwort Bund aktuell Nr. 3 | 2. März 2023

Liebe Leserin, lieber Leser,

die Erde hat gebebt. Über lange Zeit aufgebaute Spannungen der Erdplatten haben sich plötzlich entladen. Viele tausende Menschen sind umgekommen. Viele haben alles verloren, was sie hatten und auch, wenn sie ihr Leben gerettet haben – es ist nichts mehr, wie es war und es wird auch über lange Zeit nur sehr mühsam wieder werden, wenn überhaupt.

Beeindruckend ist für mich wie immer die Hilfsbereitschaft, wenn Menschen in Not geraten: direkt vor Ort oder mittelbar mit Geld- und Sachspenden. Auch unsere türkischen Geschwister engagieren sich. Unser Bund tut sein Teil und ich weiß, dass in vielen Gemeinden gesammelt wird, um die Not zu lindern. Mitmenschlichkeit kennt keine Grenzen von Systemen und Religionen. Dem Mitmenschen in Not zur Hilfe zu werden, ist Wesen der Christenheit, es ist Nächstenliebe und die findet, gerade in diesen aufregenden Zeiten, besonders statt. Im Blick auf so viel Leid und Elend verschieben sich die Maßstäbe und wir merken, dass die Herausforderungen im eigenen Leben dahinter zurückweichen.

Die Erde bebt und alles gerät ins Wanken. Ich war vor vielen Jahren selbst einmal mitten in einem Erdbeben. Auch wenn am Ende nicht viel passiert ist, war es heftig und hat bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen. Plötzlich zittert alles, Gebäude, Straßen, Brücken, Bäume, Autos, alles gerät in Bewegung. Was für mich das Schlimmste war, es gab keinerlei Orientierungspunkte, nichts, woran man sich ausrichten oder stabil festhalten konnte. Erst, als das Zittern nachließ, kehrte ein Gefühl von Sicherheit zurück. Es gab wieder Fix- und Anhaltspunkte, wobei jedes kleine Nachbeben die Unsicherheit sofort zurückkehren ließ.

Wir Menschen brauchen Orte und Momente, an denen wir uns orientieren können. Wir brauchen Verlässliches, damit wir, bei aller sonstigen Unsicherheit, nach vorne gehen, Entscheidungen treffen und zuversichtlich sein können. Wir brauchen Anhaltspunkte, an denen wir uns ausrichten können.

Die Erde bebt, nicht nur in der Türkei und in Syrien. Erschütterungen gibt es überall, in der Ukraine und an vielen weiteren Orten auf dieser Welt, wo Krieg herrscht. Plötzlich bricht eine Krankheit ins Leben ein und erschüttert alles, was bis dahin ein stabiles Leben war. Ein Unfall passiert und verändert binnen Sekunden alles. Eine Beziehung zerbricht und alles Vertraute ist nicht mehr, alle Geborgenheit ist dahin. Die Kette möglicher menschlicher Schicksalsschläge ist lang und sie können alle Bereiche betreffen, das eigene Leben, die Familie, den Beruf, die Beziehungen, sogar das Gemeindeleben. Und dann ist da noch diese Teuerung, eine Inflation, die für viele zu einer Existenzfrage wird.

Der Apostel Paulus beschreibt diese Erschütterungssituationen im 8. Kapitel des Römerbriefes, aus dem auch der Monatsspruch für März entnommen ist: „Was kann uns scheiden von der Liebe Christi?“ (Römer 8,35). Es ist eine Frage, aber sie weist in eine Richtung. Die Antwort ist intendiert: „Nichts!“ heißt sie und so ist es auch. Paulus nennt alle die Dinge, unter denen Menschen leiden können und was sich erdbebenhaft im Leben ausweitet: Bedrängnis, Not, Verfolgung, Hunger, Kälte, Gefahr, Schwert. Und aus unserer Erfahrung können wir noch Weiteres hinzufügen. Die Maßstäbe sind dann auch gar nicht so entscheidend. Es ist die Betroffenheit, es sind die Herausforderungen, die großen und kleinen, die uns Menschen betreffen.

Die Erde bebt und immer dann fehlt es an Orientierung, weil das, was gerade noch Sicherheit und Orientierung gab, ebenfalls ins Wanken geraten ist. Mit dem Hinweis auf Jesus Christus bekommen wir die Orientierung, die unerschütterlich gilt, auch wenn die Welt zu zerbrechen scheint. Das wissen wir und das glauben wir. Wobei, mitten in der jeweils erlebten Krise und Erschütterung scheint auch dieser Ankerpunkt zu wanken und der sonst unerschütterliche Glaube kriegt Risse. Aber dann sind sie da, die Menschen und sie helfen, wenden sich nicht ab. Sie zeigen Zuwendung, geben in ihrem Verhalten Sicherheit, vermitteln Geborgenheit und Vertrauen. Freundinnen und Freunde des Lebens: mitten in der Not tragen sie die Zuversicht, auch wenn sie selbst betroffene Menschen sind.

Am Ende des 8. Kapitels des Römerbriefs sagt es der Apostel Paulus so: „Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ Diese Gewissheit tragen wir in uns. Sie ist tief in uns verwurzelt und angelegt, sie ist Bestandteil unseres Glaubens, sie ist der Motor jeglicher Zuversicht, sie ist der Impuls für Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe, sie weist über den jeweils eigenen Horizont hinaus, sie ist Merkmal der Hoffnung und sie mündet in der Aussage, dass uns nichts von Gottes Liebe in Jesus Christus scheiden kann.

Mitten in allen Erschütterungen des Lebens behalten wir diesen Zuspruch und bewahren diese Zuversicht. Dem Leben zuliebe.

Michael Noss
Präsident