Vorwort Bund aktuell Nr. 5 | 4. Mai 2023

Liebe Leserin, lieber Leser,

Der Mai ist aus Bundessicht immer ein besonderer Monat, denn dann finden über Himmelfahrt die jährliche Bundeskonferenz und der Bundesrat statt. Wie in den letzten Jahren auch diesmal wieder in Kassel. „Dich schickt der Himmel – Versöhnung erleben“ heißt das Motto.

„Versöhnung erleben“ – Je länger ich über diesen Leitsatz nachdenke, desto wichtiger wird er mir in diesen Tagen, die durch so viele Herausforderungen geprägt sind: der anhaltende Krieg in der Ukraine, der neue Krieg im Sudan, die längst vergessenen Kriege im Jemen, in Syrien, Äthiopien, Myanmar, Kolumbien, Somalia, im Kongo, in Nigeria, Darfur, Mali und noch andere mehr. „Versöhnung erleben“ ist das Stichwort - sich die Hand reichen, Waffen schweigen lassen, Wiederaufbau, neu anfangen – besonders für viele Menschen, die in diesen Konfliktsituationen leben müssen oder deswegen auf der Flucht sind. So kann der Versöhnung eine hoffnungsvolle Gestalt gegeben werden.

„Versöhnung erleben“. Ich denke auch an die immer noch zunehmende Polarisierung in der Gesellschaft, von der unsere Gemeinden nicht ausgenommen sind. Menschen sind auf Dialog hin angelegt, aber statt sich zusammenzusetzen, miteinander ins Gespräch zu gehen, Kompromisse zu finden oder gar etwas Neues zu schaffen, beziehen Menschen Position, grenzen sich ab, schließen andere aus und bezichtigen einander schlimmer Verfehlungen. Es werden kleine Dinge und Ereignisse, Äußerungen oder situationsbestimmte Momente auf ein Ganzes hochgerechnet und anstatt beieinander zu bleiben, sich die Hand zu reichen, wendet man sich ab und akzeptiert bestenfalls noch die „Artgenossen“.

„Versöhnung erleben“ – Wie anders wäre es, wenn die jeweils andere Position gehört wird, man sich um Verständnis und Verständigung bemüht, vielleicht nicht die allerbesten Freunde wird, aber am Ende beieinanderbleibt und die jeweilige Unterschiedlichkeit als Bereicherung erlebt wird.

„Versöhnung erleben“ – Dazu gehört auch, dass wir uns mit unserer Gegenwart versöhnen, wie sie nun einmal ist und ihr nicht ausweichen. Damit meine ich das Bestreben und den Drang, mit oder ohne Corona, wieder das erleben zu können und wieder so leben zu können, wie es einmal war. Es gibt, gerade in unseren Gemeinden, eine merkwürdige Sehnsucht nach dem Gestrigen. Davon geht eine große Faszination aus, weil wir es ja kennen und irgendwie auch vermissen. Aber das Gestrige ist vorbei und die alten Werte müssen sich in dieser Gegenwart, in der Begegnung mit vielen gesellschaftlichen Herausforderungen, neu bewähren. Dem können wir uns als Christinnen und Christen auch stellen, weil wir ja in der Nachfolge Jesu sind und auf dem Boden des Evangeliums stehen. Wir dürfen auf die Inspiration durch seinen Geist vertrauen. Altes können wir beherzt loslassen und uns einlassen auf manche Fragestellungen, ohne uns zu distanzieren, abzugrenzen und uns auf vertrautes Terrain zurückzuziehen.

„Versöhnung erleben“ – Vielleicht auch mit unserer jeweiligen Lebensgeschichte, mit den erfahrenen Schmerzen und Niederlagen, den Brüchen im Leben, dem Scheitern und Nichtweiterkommen. Wie gut wäre es, die Dinge abzugeben, wo es noch geht, Schritte der Versöhnung zu wagen oder in Seelsorge oder auch Therapie die Erfahrungen zu bewältigen und zu vergeben, um mit einem offenen Blick nach vorne gehen zu können.

„Versöhnung erleben“ – Dieser kurze Satz atmet Leben, er eröffnet Freiheit, er macht den Blick weit, schenkt Ideen und vermittelt Zuversicht. Dieser Satz belässt einen nicht in der Theorie, sondern lädt zum praktischen Vollzug ein. Wichtig ist, dass der erste Schritt zur Versöhnung bei mir selbst anfängt. Aber die Sehnsucht nach Versöhnung, nach Frieden und Einklang, teile ich ja mit vielen. „Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Ehre.“, schreibt der Apostel Paulus den Römern im Brief. Versöhnung ist kein zähneknirschendes Nachgeben. Versöhnung ist Nachfolge, sie ist das Ergebnis der großen Versöhnungstat Gottes in Jesus Christus und sie zeigt sich ganz praktisch in der ausgestreckten Hand dem Mitmenschen gegenüber. So ist es in allen Lebenssituationen, in den großen und konfliktreichen Kriegen, in der Gesellschaft, in der Gemeinde, im eigenen Lebensumfeld, in der eigenen Lebensgeschichte.

„Dich schickt der Himmel – Versöhnung erleben“. Mir ist es ein großes Anliegen, dass die diesjährige Bundesratstagung, trotz vielleicht mancher Unterschiede und unterschiedlicher Sichtweise, ein Ausgangspunkt für Versöhnung wird. Ich wünsche mir sehr, dass der Wunsch nach Versöhnung, nach Frieden und Freiheit, über die eigenen Vorstellungen und Ansichten gehen kann. Jesus hat es uns vorgelebt und mit seinem Tod am Kreuz und der Auferstehung für uns ermöglicht. Ich hoffe darauf, dass der Wunsch nach einem versöhnlichen Miteinander die Atmosphäre bestimmt und eine Strahlkraft in den persönlichen und gemeindlichen Alltag hat, so dass Menschen sagen können: „Dich schickt der Himmel.“

Michael Noss
Präsident