Vergebung ist herausfordernd

Gesandt zu den Gefangenen

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das gilt sogar für Kain, den ersten Mörder in der Bibel (Genesis 4,15). In Deutschland befinden sich 60.000 Menschen in Haft oder Verwahrung. Wieviel Würde gestehen wir ihnen zu?

Straftäter, insbesondere Gewaltverbrecherinnen, überfordern uns. Denn wir verabscheuen, was sie getan haben. Manchmal verabscheuen wir sie als Personen, die zu grausamen Taten fähig waren. Und wir fürchten uns vor ihnen, weil wir ihnen weitere Taten zutrauen. Zum Schutz der Allgemeinheit werden sie eingesperrt. Oder zur Strafe, als Vergeltung sozusagen. Auch zur Abschreckung (vor allem bei noch formbaren Jugendlichen). Zum Nachdenken. Und besonders zur „Resozialisation“.

In einer meiner Schubladen liegt mein Ausweis für den ehrenamtlichen Sozialdienst in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg a.d. Havel. Ein paar Jahre lang habe ich dort mit anderen Freiwilligen der Blaukreuz-Ortsgruppe Potsdam eine Wohngruppe von Inhaftierten besucht, an Gruppensitzungen teilgenommen und Einzelgespräche angeboten. Bereits früher hatte ich Gefängnisse in Deutschland und in Kenia von innen gesehen und auch vielfach mit straffällig gewordenen jungen Leuten zusammengelebt und -gearbeitet. Als 20-jähriger habe ich mich der Arbeit der „Gefährdetenhilfe“ angeschlossen. Ich war jung an Jahren und jung im Glauben. Und ich wollte etwas erleben. Berührungsängste hatte ich kaum, dafür wusste ich zu sehr um meine eigenen Dunkelheiten. Ich wusste aber, dass der lebendige Gott durch seine Freundlichkeit zum Guten verändert – und dazu wollte ich beitragen.

Das Gefängniswesen weltweit wird schon lange von Christen mitgeprägt, auch politisch. In der mittelalterlichen Welt sah man demütigende Strafen als angemessenes Mittel, um „göttliche Ordnung“ wiederherzustellen. Später, unter dem Einfluss von Aufklärung und Pietismus, spielten erzieherische Motive eine größere Rolle; die Verurteilten sollten als Bürger reintegriert werden (Johann Hinrich Wichern). Manchmal standen wohltätige Motive im Vordergrund, bei denen man die Not der Haftbedingungen abmildern wollte (Elisabeth Fry). Und manchmal sah man die Häftlinge einfach als Missionsobjekte, die vor den eifrigen Bemühungen nicht weglaufen konnten.

Im heutigen Strafvollzug in Deutschland gehört die Seelsorge fest dazu. In jeder JVA sind Entsandte der Kirchen verschiedener Konfessionen im Einsatz. Sie leiten Gottesdienste und bieten vertrauliche Gespräche und Gebet an. Auf diese Weise vermitteln sie Inhaftierten und Bediensteten die Freundlichkeit Gottes. Sie begleiten Ehrenamtliche, die ebenfalls seelsorgerlich im Gefängnis tätig werden wollen. Solche Angebote sind ausdrücklich erwünscht. Die europäischen Gefängnisregeln von 1973 verlangen, dass das Leben im Gefängnis so weit wie möglich den positiven Aspekten des Lebens in Freiheit entsprechen und die Zivilgesellschaft an der Haft beteiligt sein soll.

Wer einen Menschen im Gefängnis besucht, trifft fast immer einen einsamen Menschen. Selbst in einer voll belegten JVA: Alle Häftlinge sind allein und zugleich unfreiwillig Teil einer Gemeinschaft, zu der sie nicht gehören wollten. Es gibt zwar manche Cliquen mit kulturellen oder anderen Zusammengehörigkeitsgefühlen. Es gibt Zweckbündnisse. Aber kaum echte Freundschaften. Auf wen kann man sich wirklich verlassen? Vor wem kann man sich erlauben, Schwäche zu zeigen, ohne hinterher „abgezogen“ zu werden? Bei wem kann man weinen? Von wem empfängt man Zärtlichkeiten, wo kann man sich hingeben? Die meisten Häftlinge waren bereits vor ihrer Haft psychisch-emotional beschädigt oder sozial benachteiligt. Viele sind in instabilen Verhältnissen unter Gewalterfahrungen aufgewachsen. Im Gefängnis kommen zermürbende Eintönigkeit und weitere Gewalt hinzu. Jede Wand und jede Tür strahlt Zwang aus. Und man kann nicht davonlaufen, sich ins aufregende Nachtleben flüchten, jemanden treffen oder einfach joggen gehen. Die Lebenszeit unterdessen verrinnt, unwiederbringlich, in wesentlichen Aspekten unerfüllt. Klar, man kann nachdenken, aber gleichzeitig verfestigen sich Verdrängung, Eitelkeit, Trauer, Manipulation und Apathie. Trotz Heizung, TV, medizinischer Versorgung, sprachlicher und beruflicher Bildungsmöglichkeiten – ein Gefängnis ist ein trostloser Ort. „Resozialisierung“ ist zwar das erklärte oberste Ziel des Freiheitsentzugs. Aber ein Gefängnis ist ein der Resozialisierung feindlicher Ort, an dem man wenig für ein selbstbestimmtes und verantwortungsvolles Leben in Freiheit einüben kann. Die Haft und dessen Milieu hält Menschen von vielen alltäglichen Entwicklungschancen in Freiheit ab. Mit der Dauer der Haftzeit wächst bei vielen die Angst vor der Entlassung. Denn dann werden sie draußen beweisen, wie wenig sie drinnen lernen konnten.

Seelsorge löst diese Probleme nicht; vielmehr braucht es Haftreformen („Therapie statt Knast“, Jugendwohngruppen u.a.). Aber sie hält die Würde der Menschen hoch. Seelsorgerinnen und Seelsorger drücken Annahme aus und hören zu. Gottes barmherzige Anwesenheit wird so erfahrbar. Die Eintönigkeit des Haftalltags wird aufgebrochen und Hoffnung entsteht. Gott ist ansprechbar im Gebet. Dabei wird auf eigenartige Art spürbar, dass Gott das Gefängnis schon immer bewohnt hat „Ich war im Gefängnis“ – sagt Jesus in Mt. 25,36. Gott seufzt über die sozialen Umstände, die die meisten Häftlinge hierher gebracht haben. Er seufzt über die gesellschaftliche Hilflosigkeit, Täter-Opfer-Ausgleiche zu initiieren und gefährdeten Jugendlichen echte Chancen einzuräumen.

Eine Herausforderung stellt das christliche Kernthema „Vergebung“ dar. Dieser Begriff kann missverständlich sein im Gefängnis, weil er leicht mit „Verzeihung“ verwechselt werden kann. Und verzeihen – das können zunächst nur die betroffenen Opfer einer Straftat. Ja, im Tod Jesu wurde alle Schuld ausgelöscht. Gott vergibt gnädig und gewährt Zukunft. Er ermöglicht es jedem, die eigene Vergangenheit zu bewältigen. Doch der Weg dahin besteht aus vielen mühsamen innerlichen und äußerlichen Schritten.

Jann-Hendrik Weber

Erschienen in Die Gemeinde, Ausgabe 10 vom 16. Mai 2021

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