Schmerz in Segen verwandeln

Bericht von einem Besuch in Lwiw

Helle Liht, Assistentin des Generalsekretärs der Europäischen Baptistischen Föderation (EBF), und Rachel Conway-Doel, Übersee-Teamleiterin von BMS World Mission, besuchten vom 9. bis 13. April Lwiw in der Ukraine. Dort trafen sie sich mit Vertreterinnen und Vertretern des ukrainischen Baptistenbundes. Helle Liht hat ihre Eindrücke von dem Aufenthalt beschrieben.

Lwiw hat viele Gesichter. Es ist eine wunderschöne Stadt mit reicher Geschichte, majestätischer Architektur, eleganten Cafés und einer fröhlichen Atmosphäre. Die Ukrainer und Ukrainerinnen nennen es die Hauptstadt des Kaffees, der Schokolade und der Straßenmusik. All das erleben wir, als Rachel und ich am Sonntagnachmittag durch die Altstadt von Lwiw spazieren. Die Menschen freuen sich an den ersten Frühlingsboten auf den Straßen von Lwiw: Männer spielen Schach auf einer Parkbank. Kinder klettern auf ein Denkmal auf dem Stadtplatz. Freundinnen und Freunde treffen sich in Cafés. Frauen verkaufen Blumen auf den Straßen. Musiker in bunter Kleidung treten vor vielen Menschen auf. Es ist schwer vorstellbar, dass nicht weit von hier Raketen fliegen, Häuser bombardiert werden und den Menschen Nahrung, Wasser und ein sicherer Ort fehlen. Lwiw ist friedlich. Lwiw ist schön.
Die Realität des Krieges wird mir bewusst, als mitten in der Nacht die Luftsirenen heulen und die Hotelgäste zum Luftschutzkeller auf der anderen Straßenseite geführt werden. 45 Minuten in einem kalten und feuchten Keller auf einem quietschenden Stuhl zu sitzen, lässt mich an Menschen denken, die tagelang in einer solchen Umgebung verbringen müssen, um sicher zu sein.

Andere Hinweise auf den Krieg sind die mit Metall oder Sperrholz verkleideten Kirchenfenster und Sandsäcke, die um Skulpturen gestapelt sind. Die Menschen in Lwiw sind stolz auf ihre Kunst und Kultur und haben sich gemeinsam bemüht, sie vor der Zerstörung zu bewahren.
Obwohl mich diese wenigen Zeichen daran erinnern, dass hinter der nächsten Ecke eine potenzielle Bedrohung lauert, bringen mir nur die Gespräche mit den Menschen die Schrecken des Krieges ins Bewusstsein.
Wir treffen uns mit den Menschen der Lwiwer Kirchen und den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Ukrainischen Baptistenbundes. Jede dieser Personen hat ihre eigene schmerzhafte Geschichte mit dem Krieg. Das Zuhause musste verlassen werden – manchmal sogar schon zum wiederholten Male, wenn die Menschen bereits von der Krim oder aus den Regionen Luhansk und Donezk geflohen waren. Trennung von der Familie. Zerstörung von Kirchengebäuden. Kein Ort, an den man zurückkehren kann. Familienmitglieder werden ohne Garantie für ihre Sicherheit in besetzten Gebieten festgehalten. Verwundete und sterbende Menschen auf den Straßen. Flucht vor den Bomben.
Keine dieser Erfahrungen kann angemessen in Worte gefasst werden, aber der Schmerz ist in ihren Augen sichtbar, während wir sprechen. Der Schmerz, der tief im Inneren sitzt und für den es keine vernünftige Erklärung gibt, abgesehen davon, dass das absolut Böse versucht, um sich zu greifen. Das Böse macht niemals Sinn.
Doch in den Augen und Worten dieser Menschen liegt etwas Stärkeres und Mächtigeres als der tiefe Schmerz. Das ist der Glaube an und die Hoffnung auf den auferstandenen Christus. Ukrainische Baptisten sind wirklich Ostermenschen in einer Karfreitagswelt. Es ist dieser Glaube und diese Hoffnung, die es ihnen ermöglichen, ihren eigenen Schmerz in einen Segen für andere zu verwandeln.
Die berühmten Worte „Mache Schmerz zu deinem Lehrer und nicht zu deinem Herrn“ kommen mir in den Sinn, wenn ich ihre Geschichten höre. Ukrainische Baptisten lassen sich nicht von ihrem Schmerz überwältigen und Wut, Bitterkeit und Rache produzieren. Sie haben diesen Schmerz eingeladen, ihr Lehrer zu sein, damit sie den Schmerz anderer verstehen und sich ihm öffnen können. Tausenden von Menschen wird mit Nahrung und Unterkunft geholfen und noch mehr mit einem freundlichen Wort, unterstützendem Gebet und Hoffnung für die Zukunft. All dies geschieht in der Kraft Gottes und im Namen des auferstandenen Christus.
Христос воскрес! Воістину воскрес!
Der Herr ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden!

Ein Artikel von Helle Liht