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Verantwortlich glauben mitten in der Welt

Konstruktiv und kritisch Zeugnis geben

Als ich als Jugendpastor vor 30 Jahren in einer Predigt dazu aufforderte, nicht nur in der Gemeinde Beziehungen zu pflegen, sondern sich Zeit zu nehmen für Freunde und Hobbys außerhalb der Gemeinde, sagte mir eine ältere Schwester, dass ich genau das Gegenteil von dem predige, was man ihr früher sagte: dass man als Christ mit der Welt und den Menschen dort nichts zu tun haben sollte.

Heute würde ich, aufgrund meiner Wahrnehmungen in den Gemeinden, wahrscheinlich den Akzent darauf legen, im Alltag sein Christsein nicht an den Haken zu hängen, sondern dort bewusst und gerne auch offensiv zu leben, in Wort und Tat. Dieser Abschnitt der Rechenschaft vom Glauben gibt wichtige Impulse, wie wir Glaube, Welt und Gesellschaft kritisch und konstruktiv zusammenbringen.

Unser christliches Leben ist mit Welt und Gesellschaft verbunden, denn als Christen sind und bleiben wir Menschen. Wir leben bewusst als Bürger in dieser Welt, nehmen ihre Schieflagen wahr, genießen aber doch auch ihre Schönheit und fügen uns hoffnungsvoll in das Beziehungsnetz unseres Alltags. Das widerspricht dem alten christlichen Denken, dass man als Christ möglichst wenig Bindungen in der Welt haben, sondern sich nur im geschützten „heiligen“ Raum der Gemeinde verwirklichen sollte. Das Evangelium ruft uns dazu auf, unser Leben als Christen in unserem Alltag zu gestalten (Röm 12,1-2). In der Gemeinde den frommen Christen zu spielen, während man im Alltag die Prinzipien des Evangeliums vernachlässigt, ist also ausgeschlossen. Am Ende des kirchlichen Gottesdienstes steht kein Punkt, als ob der Gottesdienst nun vorbei ist, sondern ein Doppelpunkt: Im Alltag geht der Gottesdienst nun weiter. Dieses Glaubenszeugnis geschieht durch die Gemeinde als Ganze – durch besondere Initiativen, die den Alltag der Menschen aufnehmen –, aber auch durch die einzelnen Glieder. Der lebendige Gott selbst befähigt und ermutigt uns Christen dazu durch seinen Geist. Das heißt, unser Leben im Alltag, unsere Freunde, unser berufliches Umfeld, unser Sein und Tun in der Familie, in Beruf und Freizeit, Schönes und Konflikte, sind Thema unseres Gebets, in Dank und Bitte. Aber Achtung: Auch wenn oder gerade weil wir uns von Herzen wünschen, dass das Evangelium unsere Welt prägt, widerstehen wir der Versuchung, unsere Überzeugungen vom rechten Leben und Glauben zum Gesetz für andere zu machen. Besonders in Gesellschaften, wo Christen in der Mehrheit sind, stehen sie in der Gefahr, ihre religiösen Prinzipien für alle verpflichtend zu machen. Demgegenüber wollen wir mit dem Evangelium nicht herrschen; Evangelium und Zwang stehen im Widerspruch zueinander. Aber als Gemeinde und als Einzelne sind wir zur Verantwortung des Glaubens bereit (1. Petr 3,15).

Aber zu unserem zeugnishaften Sein in der Welt gehört auch, dass wir die Liebe und Gerechtigkeit Gottes in Situationen von Ungerechtigkeit und Bosheit zur Sprache bringen und uns nicht „wegducken“. Wenn Menschen in unseren Gemeinden sich politisch für Gerechtigkeit engagieren, unterstützen und begleiten wir sie im Gebet und im Gespräch. Schön wäre es, wenn wir in der Gemeinde die Liebe Gottes und den Respekt voreinander leben würden und uns die Leute wegen der Atmosphäre der Barmherzigkeit, die unter uns lebt, die Türen einrennen. Aber da wir auch als Christenmenschen Anteil haben an Bosheit und Egoismus, die das Menschsein mitprägen, kommen wir diesem Ideal oft nicht nach. Da hilft es nicht, irgendwelchen Idealen von christlichen „Gutmenschen“ nachzutrauern. Als Christen wissen wir jedoch um die Kraft der Vergebung und können ein Vorbild darin sein, wie man mit Lieblosigkeit und Verletzungen im Geist der Vergebung umgeht (Röm 3,21-31).

Dass wir als Christen oft in der Minderheit sind, entmutigt uns nicht; schon Jesus hat von der „kleinen Herde“ gesprochen (Lk 12,32 – nicht in der RvG), die aber mit der Liebe Gottes im Herzen eine große Kraft hat. Dreimal wird in den biblischen Referenzen dieses Abschnitts der RvG auf den 1.Petrusbrief verwiesen, der adressiert ist an die „auserwählten Fremdlinge, die verstreut wohnen“ (1,1.3-12). Auch gegen den Wind leben wir unseren Glauben im Alltag. Indem wir die Menschen um uns herum respektieren und ihnen Gutes tun, dienen wir Gott, denn im Nächsten begegnet uns Gottes Ebenbild. „Wir sind Gottes Mitarbeiter“ (1. Kor 3,9): Als solche, die von Gott geliebt, begabt und berufen sind, bezeugen wir unseren Glauben mit Worten, in allen möglichen Alltagsbegegnungen und auch, indem wir uns Menschen solidarisch an die Seite stellen, die leiden und Unrecht erfahren. Den Nächsten zu lieben, ist kein Gefühl, sondern praktische Hilfeleistung (Mt 5,43-48). Überraschend finde ich hier die Nichterwähnung von 2. Kor 5,19-20 („So bitten wir nun an Christi Statt…: Lasst euch versöhnen mit Gott!“), weder als Bibelstelle am Rande noch begrifflich im Text.

Aber die Möglichkeit des Leidens wird erwähnt (1. Petr 4,12-19): Für viele Christen, die in religiös oder politisch totalitären Gesellschaften leben, bringt das Glaubenszeugnis Benachteiligung und Verfolgung mit sich. So weit ist es, Gott sei Dank, in Mitteleuropa derzeit nicht, aber doch müssen wir es in Kauf nehmen, wenn wir aufgrund des Verzichts auf Lügen und Ellenbogenpolitik bisweilen den Kürzeren ziehen.

Der Abschnitt ist eine wunderbare Einführung in das Kapitel II. Die Christen in der Welt. Das Anliegen der Mission wird hier deutlich, aber zurückhaltend, vielleicht zu zurückhaltend zum Ausdruck gebracht. Alles steht weiterhin unter der Überschrift „Teil 2: Das Leben unter der Gottesherrschaft“. Von daher werden nicht Ziele des Glaubenszeugnisses thematisiert: z.B. das Wachstum von Gemeinde, die Bekehrung verlorener Seelen oder eine gerechtere Gesellschaft, sondern die Haltung der Christen, die Ausprägung dieses Zeugnisses, das aus der Erfahrung der Gottesherrschaft entspringt: Wenn du ein von der Gottesherrschaft Getriebener bist, dann lebst und bezeugst du deinen Glauben im Alltag in dieser Welt.

Einladung zum Weiterdenken

1. Das wir in unserer Welt Zeugnis ablegen von unserem Glauben ist wohl unbestritten – aber inwiefern sollen wir dies passiv (antwortend) oder doch auch proaktiv (ansprechend) tun?

2. Inwiefern fördert oder hemmt das Geschehen in der Gemeinde unser christliches Zeugnis? Stimmt der Satz: „Erst müssen wir uns in der Gemeinde versöhnen, dann können wir missionieren!“?

3. „Das persönliche Christuszeugnis von Mensch zu Mensch“ oder die „Solidarität mit den leidenden Menschen“… In welchem Bereich sind wir stärker oder schwächer aktiv und warum?

Erschienen in: Die Gemeinde 20/2022, S.18-19.

Ein Artikel von Prof. Dr. Michael Kißkalt, Professor für Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie und Rektor der Theologischen Hochschule Elstal

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