André Carouge (r.) besucht eine Moschee.

Darum bemühe ich mich um interreligiösen Dialog

Wenn die Biografie Entscheidungen vorgibt

Theologie und Biografie sind nicht voneinander zu trennen. Vielmehr bedingen sie einander. Eigentlich noch mehr: Das Wissen um meine eigene Biografie fordert mich heraus, Brückenbauer und Dialogermöglicher zu sein. Und das kommt so: Mein Vater war türkischer Gastarbeiter der ersten Generation. Er war Muslim und Gründungsmitglied eines Moscheevereins in meiner Heimatstadt, den es bis heute gibt.

Meine Mutter ist Deutsche, evangelisch. Wenn manche Entscheidungen in der Familie anders getroffen worden wären, würde ich heute höchst wahrscheinlich in Istanbul leben. Denn Mitte der 80er Jahre ist mein Vater nach der Trennung von meiner Mutter mit seiner neuen Familie in die Türkei zurückgekehrt. Wie gesagt, wenn manche Entscheidung anders getroffen worden wäre, wäre ich sehr wahrscheinlich kein Baptistenpastor geworden, vielleicht sogar gar kein Christ, sondern Muslim, wie auch meine (Halb-)Geschwister. Allein meine Biografie fordert mich also heraus, mich mit dem auseinanderzusetzen, was und wie andere glauben und sprachfähig bezüglich meines eigenen Glaubens zu sein.

Theologie und Biografie sind nicht voneinander zu trennen. Ich habe immer an Orten als Pastor gearbeitet, an denen es eine starke muslimische Community gab. Orte, in denen Gemeinden schon viele Jahrzehnte vor Ort existierten. Die sprachen selbstverständlich davon, dass das Evangelium allen Menschen gilt, aber zu diesem Teil ihrer Stadtgesellschaft weder einen Zugang hatten, noch sich um ihn bemühten. Das hat mich ehrlich gesagt verwundert, und ich bitte das nicht als Kritik zu verstehen. Dabei ist der Zugang zu dieser Community meines Erachtens nach nicht schwer, auch wenn ich mit meiner Biografie eher als „einer von ihnen“ wahrgenommen werde. Es bedarf dazu nur eines: sich auf den Weg zu machen. Oder wie es der Dienstbereich Mission unseres Bundes sprachlich schön auf den Punkt bringt: „Wir gehen hin.“ Wenn wir tatsächlich hingehen, können wir eines getrost zu Hause lassen: unsere Angst. Auch wenn man scheinbar in eine fremde Welt mitten in der eigenen Stadt eintaucht, die man bisher überhaupt noch nicht wahrgenommen hat, und sie sich so ganz anders und fremd anfühlt. Jeder Kontakt, jeder Besuch, jeder gemeinsam getrunkene Tee wird bewusst und wertschätzend wahrgenommen. Mein Gesprächspartner fühlt sich endlich gesehen, angesehen und beachtet. Aus Mitbürgern, die man bisher nicht kannte, werden schnell Bekannte und mit der Zeit Freunde. Geschichten werden erzählt. Denn das macht Dialog aus: zu hören und zu erzählen. Die Geschichte der anderen zu hören. Die eigene zu erzählen. Schnell ist man bei Glaubensfragen. Und immer wieder merke ich: Wir haben Jahrzehnte aneinander vorbeigelebt. Leider, denn dabei haben wir viel Zeit und Chancen ungenutzt liegengelassen und auf beiden Seiten ist das Wissen um und von den anderen sehr gering geblieben. Wenn aber eine Beziehung entsteht, geht es sehr schnell um inhaltliche Fragen. Wie lebst du deinen Glauben? Wie betest du? Wer ist Jesus für dich? Und der Wunsch wird geäußert: Darf ich dich einmal in deiner Kirche besuchen kommen? So manches tiefgehende Gespräch habe ich mit Imamen am Taufbecken geführt.

Übrigens: Dialog meint nicht nur kuschelig miteinander unterwegs zu sein, sondern er beinhaltet immer auch kritische Rückfragen. Ich erfahre, dass diese Art der Rückfrage möglich ist und sie dem freundschaftlichen Miteinander keinen Abbruch tut. Kritische Rückfragen schaffen Klarheit, schärfen das Bewusstsein, wo ich stehe und wie ich mich selbst positioniere. Es wird deutlich wahrgenommen. In einer Situation, in der ein Moscheeverein von der Presse und in den sozialen Medien in die Mangel genommen wurde, wurde ich gerade deshalb vom Vorsitzenden um ein Gespräch gebeten. Denn wir hatten und haben die gemeinsame Ebene, auch über Kritisches miteinander zu sprechen.

Ebenso wie die Kirchen, wie unsere Gemeinden, leben Moscheevereine auch nicht im luftleeren Raum, sondern in unserer Gesellschaft. So ist der Dialog vor allem auch eines: Engagement für gesellschaftlichen Frieden. Denn in beiden Institutionen kommen wöchentlich Menschen zusammen, Menschen, denen ihr Glaube wichtig ist. Was können wir tun, miteinander tun, damit das gesellschaftliche Klima positiv ist und bleibt? Was können wir gemeinsam unserer Stadt Gutes tun? Wie ihr Bestes suchen? Denn es gibt auch andere Kräfte in unserer Stadt. Eine Partei, die auseinanderdividieren will. Aber nicht wir! Wir wollen zusammenführen und zum Frieden beitragen. Vielleicht sind wir ja die richtigen Ansprechpartner, wir, die aus einer „kleinen“ Kirche kommen und wissen, was es bedeutet, dass wir eine Minderheit und andere in der Mehrheit sind. Dass wir in manchen Landstrichen in Hinterhöfen Gottesdienste gefeiert und lange Zeit gebraucht haben, überhaupt gesellschaftlich anzukommen.
Sicher hilft uns ebenso unser baptistisches Erbe, die Forderung nach Glaubens- und Gewissensfreiheit für alle Menschen – die so nicht erst in der Gegenwart, sondern bereits 1848 von Julius Köbner formuliert und gefordert wurde. Unsere Erfahrungen der letzten Jahrzehnte können uns helfen, unser Gegenüber ein Stück weit zu verstehen und gute Gesprächspartner zu sein.

Natürlich geht der Dialog weiter. Er findet nicht nur zwischen Kirche und Moschee statt, sondern auch mit anderen Religionen und Glaubensgemeinschaften, die in unserer Stadt leben. Auch hier wird deutlich: Noch immer wissen wir viel zu wenig voneinander. Immer wieder fragen wir nach, lassen uns erzählen und erklären. Besuchen einander, um selbst zu erleben, was den religiösen Alltag unseres Dialogpartners ausmacht. Eigentlich müsste das noch wesentlich intensivier gestaltet werden.

Warum ich mich um interreligiösen Dialog bemühe? Weil es dem Frieden dient. Weil es spannend ist. Weil es mein Leben bereichert, meinen Glauben positiv herausfordert und mir neue, ganz andere Erfahrungsräume öffnet, die ich ansonsten wahrscheinlich nie kennengelernt hätte. Manche Vorurteile konnte ich loswerden. Und ich bin reich beschenkt worden, mit vielen interessanten und beglückenden Begegnungen.

Autor: André Carouge

Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift DIE GEMEINDE. Der Artikel ist in der Ausgabe 19/2020 mit dem Titel „Im Dialog“ erschienen. Sie kann hier erworben werden. Darin sind auch Beiträge von Mitgliedern des Fachkreises Christen und Muslime.