Beim Hingehen erlebt

„Zeugnis geben“

Die zwei Männer sitzen mir beim Essen gegenüber. Tätowierungen, verfärbte Zähne, klebrige Haare, ungewaschener Geruch streift meine Nase. Und sie sitzen hier, weil es ein kostenloses Mittagessen gibt nach dem Gottesdienst. Wir üben als Gemeinde in Heilbronn noch, dass wir „Normalen“ hier auch essen dürfen.

Als Christ und – verschärfend – als Pastor fühle ich mich herausgefordert, ein Gespräch mit den beiden anzufangen, am Besten über Jesus. Ich lächle etwas hier, nicke mal Verständnis suggerierend dort – wenn ich die Worte überhaupt verstehe. Nein, nicht wegen des Schwäbischen. Ich habe einfach keine Ahnung, von welchen Plätzen und Menschen und Begegnungen sie sich da erzählen. Das ist nicht meine Welt. Nach 15 Minuten verziehe ich mich verschämt wieder in meine bekannten Gemeindekreise. Ohne etwas Frommes abgesondert zu haben.

Das kenne ich zur Genüge. Peinliche Missionsversuche, vorbereitete Gesprächseinstiege, auswendig gelernte Argumentationsketten, Überzeugungsmethodik und auf Knopfdruck „Zeugnis geben“. Ich will es nicht mehr. Auch weil ich selbst nicht auf diese Art „Versicherungsvertreter“ angesprochen und zugetextet werden mag. Selbst wenn die Wohnsitzlosen meinem Sermon zuhören würden, weil sie freundlich sind und wissen, bei wem sie sich für das Essen zu bedanken haben – es fühlt sich irgendwie falsch an.

Und ein Blick auf den Jesus der Bibel zeigt das ja auch: Seine Sendung (lat. „missio“) erschöpft sich nicht in Aktionen für Arme und Ausgestoßene, gut geplante und plakativ beworbene Höhepunkte. Und anschließend geht er wieder in sein Office zurück zur nächsten Strategiesitzung mit der PR-Abteilung. Gott wird doch Mensch, one of us. Er passt sich an, verzichtet, wird abhängig, bedürftig, lebt mit anderen, lernt das menschliche Leben von der Pike auf, am eigenen Leib: atmen, schreien, warten, essen, lächeln, kuscheln, schlafen, sprechen, umarmen, laufen, lieben, vergeben …

Vorgestern ist wieder „Essen für Bedürftige“ und ich bin in der Gemeinde. Auch die zwei Männer vom letzten Mal sind da und grüßen mich. Sie haben mich nicht vergessen? Beim Kirch-Café versorgt mich eine Frau, die ich noch nicht kenne, mit einer Tasse Kaffee. Als die Kanne leer ist, geht sie und holt frischen. Ich wundere mich. Sie gehört doch zu den Anderen und bedient mich? Darüber kommen wir ins Gespräch. Und sie hilft mir zu verstehen: Jeder Mensch mag gebraucht werden, seine Geschichte erzählen, Anteil geben und nehmen. Essen für Bedürftige? Da gehöre ich auch hin.

01.12.2015
Gunnar Bremer