Vorwort Bund aktuell Nr. 2 | 1. Februar 2024

Liebe Leserin, lieber Leser,

Menschen gehen auf die Straße und demonstrieren für den Erhalt der Demokratie, für das Zusammenwirken gesellschaftlicher Systeme, für Freundlichkeit und Toleranz, für Annahme von Menschen, gleich welchen Alters, Herkunft und Geschlecht und was sie sonst noch alles so ausmacht. Ich bin begeistert, weil es den Anschein hat, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt und das Gemeinsame mehr zählt, als alle Polarisierungsversuche, die immer wieder von denen gemacht werden, die sich im Kreise Gleichgesinnter abgrenzen und distanzieren wollen, die Menschen stigmatisieren und ablehnen, für die Vielfalt eine Bedrohung darstellt und bei denen Freiheit nur für die eigene Gesinnungsgruppe zählt.

Menschen gehen auf die Straße, Junge und Alte, Familien mit ihren Kindern, Menschen aus vielen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, die der Wunsch nach Frieden, nach Zugehörigkeit zu einer freiheitlichen Gesellschaft mehr beseelt, als die Unterschiede, die es auch gibt. Es sind viele, zu viele, als dass die Interpretationen und schnellen Analysen der Polarisierer greifen könnten. Vielfalt ist eben vielfältig und da geht es nicht, dass man sich an kleinteiligen Fragen aufhält und mittels kurzsichtiger Statements die Gesellschaft spaltet und Menschen auseinanderbringt.

„Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ (2. Kor. 3,17) Immer wieder geht mir in diesen Tagen dieses Wort aus dem 2. Korintherbrief durch den Sinn und ich spüre, wie mich dieses Satz nicht nur beflügelt, sondern auch tröstet und stärkt und mir die Furcht nimmt. Wir dürfen denken und glauben, dürfen handeln und gestalten und dürfen uns dessen gewiss sein, dass Gott uns einen großen Gestaltungsraum eröffnet, in dem wir mit unseren Mitteln und Möglichkeiten sein Reich in dieser Welt vertreten, das Reich der Freiheit und Offenheit für alle Menschen.

Es gehört zur baptistischen DNA für die Freiheit, vor allen Dingen für Religionsfreiheit bzw. Glaubensfreiheit, einzutreten. 1610 schrieb Thomas Helwys, einer der Gründerväter der ersten Baptistengemeinden in seiner Schrift „A Short Declaration of the Mystery of Iniquity“ (Eine kurze Erklärung des Geheimnisses der Ungerechtigkeit) an König James I.: „Unser Herr, der König, ist nur ein irdischer König und er hat deshalb als König nur Autorität in irdischen Dingen, und wenn die Leute des Königs gehorsame und wahre Untertanen sind, die allen vom König erlassenen menschlichen Gesetzen gehorchen, so kann unser Herr, der König, nicht mehr verlangen, denn die Religion der Menschen zu Gott besteht zwischen Gott und ihnen selbst, der König soll dafür nicht Rede stehen, noch soll der König Richter sein zwischen Gott und Mensch. Sollen sie doch Ketzer, Türken, Juden oder sonst etwas sein, es steht der irdischen Macht nicht zu, sie deshalb auch nur im Geringsten zu bestrafen.“ 

Unter dem Eindruck der von liberalen Kräften getragenen Märzrevolution 1848, veröffentlichte Julius Köbner, Mitgründer der deutschen bzw. kontinentalen Baptistengemeinden sein „Manifest des freien Urchristenthums an das deutsche Volk“. Es richtet sich gegen das Staatskirchentum und forderte Religionsfreiheit – nicht nur für die Anhänger der eigenen Konfession, sondern (Zitat) „für Alle, seien sie Christen, Juden, Muhamedaner oder was sonst“. Da wo Menschen unterdrückt werden, wo sie ausgegrenzt und verurteilt werden, müssen wir aufstehen, denn Gottes Geist führt in die Weite und nicht in die Enge, schafft Raum zum Leben für alle Menschen, mögen sie auch noch so unterschiedlich sein und auch so ganz anders als ich selbst.

Bei Thomas Helwys und später bei Julius Köbner ging es um Glaubens- bzw. Religionsfreiheit. Die ist inzwischen in unser Grundgesetz eingegangen und ist im gesellschaftlichen Kontext ein hohes Gut. Heute geht es wahrscheinlich um anderes, aber es ist wieder die Freiheit, die bedroht wird, für die die Menschen jetzt auf die Straße gehen. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ heißt es im Galaterbrief 5,1. Den Konflikt, um den es damals bei den Galatern ging, haben wir nicht mehr. Das ist längst Geschichte. Aber das Ab- und Ausgrenzende, das hinter dem Satz des Apostel Paulus steht, gibt es heute immer noch. Jetzt sind es Menschen mit Migrationshintergrund oder Menschen mit einer bestimmten Lebens- und Glaubensweise. Es sind immer die gleichen Mechanismen. Es ist ein „Mit-dem Finger-zeigen“ auf die, die anders sind oder denken, es ist der Versuch, alles zu vereinfachen und auf ein paar kritische Punkte zu reduzieren, um dann mit markigen Sätzen die eigene Gruppe zu stärken.

Wir sind als Christinnen und Christen durch Jesus befreite Menschen mit einer großen und weiten Perspektive. Gottes Geist schafft Räume der Freiheit, in der unterschiedliche Menschen leben und sein können, auch ohne einen letzten Konsens. Im Gegenteil: In den Spannungen, den unterschiedlichen Positionen, liegt eine besondere Kraft, denn im Dialog, vielleicht auch im miteinander Streiten, besteht am Ende die Möglichkeit, beieinander bleiben zu können, denn es ist der von Gott gegebene Raum der Freiheit, in dem sich alle begegnen und leben können.

Als Gottes Leute sind wir Ermöglicher und nicht Verhinderer. Wir können es, weil wir in Jesus Christus das Heil gesehen und erfahren haben, es in uns tragen und voller Zuversicht nach vorne blicken können. Thomas Helwys und auch Julius Köbner haben für ihre Überzeugungen leiden müssen. Helwys hat es das Leben gekostet. Er ist als Märtyrer im Gefängnis gestorben. Aber sie haben durch ihr Handeln und Denken Menschen zur Freiheit verholfen. Wir sollten nichts Geringeres tun: Ob wir nun auf die Straße gehen, ob wir uns einzelner Menschen annehmen, ob wir unsere Gemeindehäuser öffnen –  der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Dem Evangelium Raum geben: darauf kommt es an.

Lasst uns darauf achten, dass Menschen nicht ausgegrenzt werden, lasst uns auch darauf achten, dass wir mit unseren Worten und Taten zur Freiheit hin handeln. Christus ist in unserer Mitte. Er hält alles in seiner Hand und damit auch uns und alle anderen auch.

Michael Noss
Präsident