Von unvollkommener Versöhnung und situativer Einsicht
Impulsvorträge und Podiumsdiskussion zum Thema „Versöhnung erleben“
„Wie kann Versöhnung funktionieren und wie vielleicht auch nicht?“ Unter dieser Fragestellung stand der Abend mit inspirierenden Gästen am Himmelfahrtstag auf der Bundesratstagung 2023 in Kassel. Eberhard Jung, Birgit Kersten-Regenstein, Magloire Kadijo und Dr. Judson Pothuraju nahmen die Zuhörerinnen und Zuhörer durch Vorträge und Gespräche mit hinein in ihre Gedanken und Überlegungen zum Thema „Versöhnung.“
Wenn es einem nicht möglich erscheine, Versöhnung zu leben, sagte der Theologe und Berater Eberhard Jung in seinem Vortrag, müsse man sich fragen, ob dies eine Haltung oder eine situative Einsicht sei. Denn die Konsequenz sei, dass sich die Haltung vermutlich nicht ändern werde, an der situativen Einsicht jedoch könne man arbeiten. „Wenn Ihr sagt, ich kann nicht vergeben, hoffe ich, dass ist nur eine situative Einsicht und keine Haltung.“ Die horizontale Dimension der Versöhnung im zwischenmenschlichen Bereich könne nie gedacht werden ohne die vertikale Dimension der Versöhnung zwischen Gott und den Menschen. Diese Versöhnung habe, so Jung, stattgefunden, ohne dass die Welt gefragt worden wäre, ob sie sich mit Gott versöhnen lassen wolle. „Und diese Radikalität gilt dann, ob es uns gefällt oder nicht, auch in unserer horizontalen Dimension. Wenn wir Jesus nachfolgen und wenn wir das wirklich ernst nehmen, ist das die Herausforderung, vor der wir permanent stehen: Zwischenmenschliche Versöhnung fängt mit der Vergebung an, ohne dass der andere mich darum gebeten hat.“
Im Gespräch mit Magloire Kadijo, Regionalrepräsentant von EBM INTERNATIONAL für das Zentrale Afrika und Sierra Leone, wurde deutlich, dass die Tatsache, dass er der einzige ordinierte Pastor im frankophonen kamerunischen Baptistenbund aus der Ethnie der Bamileke ist, ihm zum Teil Ablehnung eingebracht hat. Aber „diese Situation hat mir geholfen, mich noch mehr auf den Herrn zu konzentrieren und das zu tun, was er sagt, ohne auf die Menschen angewiesen zu sein“. Er berichtete von den Konflikten in seinem Baptistenbund und der damit einhergehenden Lagerbildung. Jedes Lager versuche, ihn auf seine Seite zu ziehen. Früher habe er dafür gekämpft, dazu zu gehören, nun kämpfe er darum, nicht von den einen oder anderen vereinnahmt zu werden, berichtete Kadijo. Und doch erlaube ihm diese Situation, den Menschen auch ganz individuell zu helfen, sich zu versöhnen. Auch auf die Auswirkung des Treibens der Terrormiliz Boko Haram im Süden Kameruns ging Magloire Kadijo ein. Viele Menschen, größtenteils Muslime, seien deshalb seit 2014 in den etwas sichereren Norden des Landes geflüchtet. Die Christen vor Ort hätten diesen Menschen mit Nahrung geholfen, sie bei sich zu Hause aufgenommen. Bisher standen Christen und Muslime immer in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander, nun befänden sie sich gemeinsam in einer schwachen Position: „Es ermöglichte den Muslimen, zu verstehen, dass Christen nicht ihre Feinde sind.“
Dr. Judson Pothuraju, EBM Regionalrepräsentant für Indien, führte als Beispiel der Versöhnung die gute Zusammenarbeit der unterschiedlichen Projektpartner von EBM INTERNATIONAL in Indien auf. Als Regionalrepräsentant supervidiert Pothuraju 60 Projekte von 16 verschiedenen Partnern, die EBM INTERNATIONAL in Indien unterstützt. Vor einigen Jahren sei eine Zusammenarbeit undenkbar gewesen, da die Partner völlig unabhängig voneinander gearbeitet, sich nicht vertraut, sogar regelmäßig gegenseitig verklagt hätten. Nun träfe man sich regelmäßig, um Projekte gemeinsam zu besprechen und sich gegenseitig zu unterstützen. Auch auf die Entwicklung der Lage für die Christen in Indien ging Pothuraju ein. Die indische Regierung vertritt die Politik, dass alle Inder und Inderinnen Hindus sein müssten. Angehörige anderer Religionen seien demzufolge hohen Repressalien ausgesetzt. Dennoch engagierten sich die Christen und Christinnen im Land in Hungerbekämpfungsprojekten, bei denen sie vor allem arme Hindu-Bauern unterstützen und im organischen Anbau schulen. „Als Christ mache ich keinen Unterschied zwischen Hindus, Muslimen und Christen, weil unsere Projekte offen sind.“ Die Hilfeempfänger zögen Nutzen aus dem Projekt, würden mehr produzieren und dadurch in der Lage sein, ihre Familien zu ernähren. „Und sie merken, dass diese Versöhnungstat von einer christlichen Organisation ausgeht. Sie sehen die Tat mehr als die Worte.“
Die Beraterin Birgit Kersten-Regenstein legte in ihrem Vortrag den Schwerpunkt auf Konfliktlösung und Versöhnung innerhalb von Gemeinden. Dabei betonte sie, dass es wohl nie die perfekte Versöhnung gebe. Wichtig sei es, in Konfliktsituationen die eigenen Beweggründe kritisch zu reflektieren, eine vernünftige Feedback-Kultur in der Gemeinde zu etablieren und eine „mutige Lehre zu vermitteln, die freisetzt und irritiert“. Damit sei gemeint, Vergebung mehr als Privileg zu verstehen, als sie als Auftrag anzusehen. „Ich glaube, dass wir immer eine imperfekte Versöhnung leben“, sagte sie. Man müsse es lernen, auszuhalten, dass die Menschen in ihrer Unvollkommenheit auch imperfekte Versöhnung praktizieren können. „In diesem Sinne bin ich davon überzeugt, dass Versöhnung möglich ist.“
Im Anschluss an Vorträge und Podiumsgespräch ermutigten die Moderatorinnen Anja Bär und Johanna Panter das Publikum miteinander ins Gespräch zu kommen. Jan Primke und Band sorgten für die musikalische Gestaltung des Abends.
Die Abendveranstaltung am Himmelfahrtstag auf YouTube.
Ein Artikel von Julia Grundmann