Foto: David Vogt

„Warum ist Spiritualität in und Kirche out“

Vortrag von Prof. Tobias Faix auf der Bundesratstagung 2018

Spiritualität boomt! Studien belegen einen gesellschaftlichen Trend hin zur Sinnsuche und einem geistigen Leben, gleichzeitig erleben die großen Kirchen hohe Austrittszahlen, und auch viele Freikirchen kämpfen mit stagnierenden Mitgliederzahlen. Wie kommt es, dass eben jene Institutionen, die über Jahrhunderte das geistliche Leben in Europa prägten, solche Schwierigkeiten haben, die sinnsuchende Gesellschaft mit ihrer Botschaft zu erreichen? Dieser Frage widmete sich Tobias Faix, Professor für Praktische Theologie an der CVJM-Hochschule in Kassel, in seinem Vortrag „Warum ist Spiritualität in und Kirche out?“

Grundlegend sei die Beobachtung eines gegenwärtig stattfindenden Paradigmenwechsels, so Faix. Globalisierung, Digitalisierung, Individualisierung und eine gesellschaftliche Pluralisierung zeugten von „soziokulturellen Umbrüchen von großer Tragweite“. Bisherige Denk- und Wertesysteme würden heute in Frage gestellt und gäben vielen Menschen keinen Halt mehr. Habe das Christentum über lange Zeit die Deutungshoheit in den existenziellen Fragen des Lebens gehabt, so konkurriere es heute mit einer Vielzahl an Religionen und Philosophien. Existenzielle Fragen wie „Was ist das gute Leben? Was gibt Sinn und Halt?“ hätten in diesem Werte-Vakuum eine hohe Bedeutung, im Dschungel der Meinungen und Möglichkeiten nehme die Gesellschaft feste Glaubenswahrheiten und Dogmen jedoch als überholt und einengend wahr. Jugendliche, so Faix, „sehen sich verschiedene Entwürfe an und greifen sich das heraus, was ihnen subjektiv hilft und Sinn gibt.“ Wahrheit werde als das verstanden, was dem Individuum subjektiv guttut. Wichtig sei nicht mehr, was ich glaube (Glaubensinhalt), sondern wie ich glaube (Haltung und Praxis). Dabei könne es auch zur Vermischung verschiedener religiöser Elemente kommen („Patchwork-Religion“).

Um die Situation der Kirchen in diesem neuen Kontext zu verdeutlichen verwendete Faix das Bild einer Brücke, die neben einem Fluss steht, der seinen Flusslauf geändert hat: „Wir können die Brücke renovieren und schön anmalen, zum Beispiel durch modernen Lobpreis. Die Brücke führt dennoch nicht mehr über den Fluss.“ Stattdessen müssten wir unsere bisherigen Dogmen und Lehren hinterfragen, um die Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit zu erreichen. Konkret wurde Faix bei klassischen Formen der Verkündigung. So sei beispielsweise die Rede von Schuld und Vergebung vielen Menschen fremd, da kein Schuldbewusstsein vorliege. Der Begriff Sünde werde als ethisch-bevormundend wahrgenommen und auch Kampfesmetaphorik, zum Beispiel der Kampf Gut gegen Böse, entspreche nicht dem pluralistischen Zeitgeist. Diese biblischen Botschaften seien für die Menschen von heute nicht mehr verständlich. Es bedürfe daher neuer Wege der Verkündigung, um die Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit zu erreichen, so Faix. Gerade in der Leistungsgesellschaft seien die Themen Scham und Ausgrenzung hochaktuell. Der Mensch werde durch seine Arbeit, sein Aussehen oder seinen Verstand beurteilt, wie befreiend sei da die Rede von der bedingungslosen Annahme Christi und die gelebte Annahme von Menschen jeglicher Herkunft in den Ortsgemeinden. Christen sollten „die Sprengkraft des Kreuzes nutzen“, um bei und mit den Menschen zu sein und „anfassbar“ zu werden. Kirche dürfe nicht darin bestehen, innerhalb der eigenen vier Wände die immergleichen Dogmen rauf- und runter zu beten. Stattdessen sollten Christen ihr Umfeld sehr aufmerksam beobachten, zuhören und auf die Lebenswelt der Menschen eingehen. Es gehe nicht darum, das eigene Verständnis der biblischen Botschaft zu relativieren, sondern durch eine Haltung der Offenheit das Evangelium neu vorzuleben und verständlich zu machen. Dass dabei auch Altes hinterfragt und neu durchdacht wird, solle nicht als Gefahr verstanden werden, sondern als Aufgabe, das Evangelium lebendig in einen neuen Kontext einzupflanzen.

Ein Artikel von Markus Höfler