Vorwort Bund aktuell Nr. 5 | 6. Mai 2021
Liebe Leserin, lieber Leser,
Der Monatsspruch für den Monat Mai aus den Herrenhuter Losungen hat mich zum Nachdenken gebracht: „Öffne deinen Mund für den Stummen, für das Recht aller Schwachen!“ Sprüche 31,8 und weiter heißt es in Vers 9 „Öffne deinen Mund, richte gerecht, verschaff dem Bedürftigen und Armen Recht.“ So lautet der Text nach der Einheitsübersetzung.
Es wird geredet und geredet. Unendlich viele Wörter werden gemacht. In Talkshows, mit immer wieder den gleichen Gästen, werden die gleichen Themen durchgekaut und längst bekannte Meinung verbreitet. Ich sehe mir solche Shows eigentlich gerne an, lese gerne Blogs und höre Podcasts. Aber manchmal denke ich in diesen Tagen, wäre es auch gut, einfach einmal nichts zu sagen, nichts zu schreiben, zu besprechen, obwohl ich es hier und jetzt gerade auch wieder tue. Trotzdem, manchmal kann ich gut auf die Meinungen anderer verzichten, auf Kommentare zum Zeitgeschehen, genauso wie auf Nachrichten und sonstige Meldungen. Einfach einmal nichts sagen, nichts verlauten lassen, einfach mal schweigen und Stille zulassen.
Immer dann, wenn es mir mal gelingt, habe ich den Eindruck, dass mir neue Gedanken zuwachsen, sich die Maßstäbe verschieben, bisher scheinbar Wichtiges nach hinten rückt und bisher Verborgenes bedeutender wird. In stillen Momenten können Dinge in mir reifen, Erkenntnisse wachsen und die Aufmerksamkeit schärfen. Mitten in der Stille erkenne ich auch, dass ich nicht einfach schweigen soll, sondern meinen Mund auftun muss, aber dann zielgerichteter, engagierter und weniger im Blick auf die eigene Meinung sondern im Interesse derer, die schon lange nichts mehr sagen, weil ihre Stimme eh nie gehört wird, im Interesse derer, deren Bedürfnisse niemand wahrnimmt, und im Interesse derer, die arm sind, weil es ihnen an Gemeinschaft, Zuwendung, Orientierung oder Materiellem fehlt.
Es braucht schon eine Weile, bis wir sie erkennen, die Stummen und die Rechtlosen, weil es doch so viel anderes gibt, das immer wieder unsere Aufmerksamkeit beansprucht. Aber sie sind da, die Kinder in den Familien, in denen Homeschooling nicht funktioniert und notvolle Enge herrscht , die Obdachlosen in den Fußgängerzonen, die noch verzweifelter sind, weil niemand da ist, der ihnen etwas geben könnte, die Kranken, die einsam und zurückgezogen sind, weil es fast unmöglich ist, sie zu besuchen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Pflegeberufen, die bis zum Anschlag arbeiten und darunter leiden, dass bürokratische Hürden sie mehr fordern als die Pflege von Menschen. Sie sind da, die älteren Menschen, denen es an Zuwendung fehlt, die Geflüchteten, die wichtige Schritte zur Integration kaum gehen können, die in den sozialen Medien Verleumdeten und Angegriffenen.
Vieles ist in diesen Tagen nicht möglich oder eingeschränkt, auch in den Gemeinden. Aber vielleicht ist diese Zeit auch die Chance zur Stille, zum in sich Hineinhorchen, zum Nachdenken und zum Erspüren des Wesentlichen. Und dann, wenn es wieder geht, dann sind wir vorbereitet, schöpfen aus der Stille und öffnen unsere Münder, engagieren uns und schaffen Recht den Armen, als Einzelne und als Gemeinden vor Ort.
Wie so oft können wir von Jesus lernen, der aus der Stille, aus einer Phase der inneren Reifung heraus, denen nahe war, von denen in den Sprüchen die Rede ist, den Stummen, Schwachen und Bedürftigen. Er hat in den Menschen eine Hoffnung entfacht, ihnen Gottes Liebe gezeigt, ist für Gerechtigkeit eingetreten und hat sie gesegnet. So auch wir, wenn die Zeit gekommen ist, unseren Mund zu öffnen.
Michael Noss
Präsident