Vorwort Bund aktuell Nr. 9 | 5. September 2024
Liebe Leserin, lieber Leser,
am letzten Sonntag im Gottesdienst begrüßte die Pastorin die Gemeinde mit dem Wochenspruch aus Psalm 103,2: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Obwohl ich dieses Wort oft gehört habe, den Psalm 103 phasenweise auswendig kenne und ich sofort Melodien und Liedstrophen im Kopf habe, die dieses Wort des Psalmisten aufgreifen, bin ich an diesem Sonntag an diesem Aufruf eine ganze Weile hängen geblieben.
Es ist schon viel los in unserer Welt und sie scheint immer komplexer zu werden. Es gibt so vieles, was täglich auf uns einströmt und neben vielen Fragen oft auch ein Gefühl von Ohnmacht hinterlässt. Der Ukrainekrieg mit all seinen Auswirkungen, die schreckliche Situation im nahen Osten, die Grenzen der Globalisierung, die verschobenen Machtverhältnisse auf der Welt, drohende weitere Konflikte an vielen Orten, Korruption und Willkür mit schlimmem Auswirkungen auf Menschen und Umwelt, die stetig fortschreitende Veränderung des Erdklimas und vieles andere mehr. Es ist einfach zu viel, um es zu fassen und Lösungen aus dem Dilemma zu finden. Und dann kommt auch noch eine sich ständig streitende Regierungskoalition hinzu, die vieles von dem, was sie tatsächlich geschafft hat, fast selbstzerstörerisch aus dem Fokus rückt und unterläuft und offensichtlich viele den Eindruck haben, sie beschäftigen sich mit sich selbst und haben das Volk aus den Augen verloren. Es ist so bestimmt nicht richtig, aber es entsteht der Eindruck. Inflation und steigende Kosten und Preise tun das Ihrige um das Lebensgefühl vieler Menschen zu trüben oder zu belasten. Die alten Strukturen und Vertrautes tragen nicht mehr.
Und dann treten sie auf, die Menschen mit den scheinbar einfachen Lösungen. Die ihre vermeintlichen Richtigkeiten in die Welt hinausposaunen und damit einen Ausweg aus der Komplexität verheißen. Schnelle und einfache Antworten, versprechen, für Entlastung zu sorgen. Denen folgt man dann gerne, aus Protest oder Überzeugung, aus der Hoffnung nach einer Lösung oder schlicht aus Angst vor dem Unfassbaren. Es sind aber eben auch Worte, die ausgrenzen und abgrenzen, die sich an Minderheiten abarbeiten und zu deren Lasten die eigene Position stärken wollen. Es werden Feindbilder geschaffen, wie zu früheren Zeiten, und dadurch entsteht Hass, der über die eigenen Unzulänglichkeiten hinwegtäuscht und die Wahrnehmung verschiebt. Diese vermeintlichen „Lösungen“ polarisieren und spalten die Welt. Die Menschenverführer haben keine Antworten auf die Komplexität, aber sie tun so und bringen nicht selten Parolen aus einer vergangenen düsteren Zeit.
Und dann sitze ich wieder im Gottesdienst und höre die Worte aus Psalm 103: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Die Komplexität löst dieses Wort nicht auf, auch nicht die vielen Unzulänglichkeiten und die offenen Fragen. Aber es weist mich in die richtige Richtung: Gott die Ehre zu geben! Zu begreifen, dass letztlich alles von ihm kommt und nichts ohne ihn ist, beruhigt die angefochtene Seele. Dass er die Welt in seinen Händen hält und ein ständiger Zufluchtsort ist, stärkt den Geist und macht die Tür in eine andere Wirklichkeit auf, die sich nicht von Parolen bestimmen lässt und in der Polarisierer keinen fruchtbaren Grund für ihre Thesen finden. Gott ist alles in allem und er ist eine zugängliche Wirklichkeit, jederzeit. Was für ein Glück, was für eine Hoffnung, welche große Zuversicht.
Mit dieser Zuversicht fällt es mir leicht, das Gute wahrzunehmen, das ich empfangen habe, die hellen Momente und auch die schweren, die Menschen und Gruppen, die Begabungen und Fähigkeiten, auch das Materielle und das Ideelle, die Stärken und Schwächen, die Bestätigungen und die Herausforderungen. Ich will das alles nicht vergessen und ich soll es auch nicht vergessen, denn diese Erinnerungen geben die Kraft für die Gegenwart, sie stärken die Hoffnung und machen immer wieder neuen Mut, sich dem Vorfindlichen zu stellen.
Wir Menschen empfinden oft das, was wir haben, als normal und als zu uns gehörig und wir klagen, wenn wir einen Verlust erleben, weil doch alles so selbstverständlich geworden ist. Wir vergessen das Gute viel zu schnell und arbeiten uns an der herausfordernden Gegenwart ab.
Auch in vielen Gemeinden ist die Situation zurzeit nicht einfach. Corona hat viel verändert an Zugehörigkeit und Solidarität und manche Gemeinden sind an ihr Ende gekommen. Viel Trauer und Schmerz ist dabei im Spiel, aber auch die Möglichkeit zu einer Entlastung. Und an anderer Stelle entsteht etwas Neues, Hoffnungsvolles und Lebendiges. Gemeindegründungen, die anders sind, als das Traditionelle, aber auch etwas, in dem es weitergeht und Gott seine Spuren in der Welt hinterlässt.
Die Herausforderungen bleiben, die Welt ist verrückt, die schnellen Antworten sind immer falsch und die Polarisierer haben nicht recht und verbiegen die Wirklichkeit. Vielleicht fängt die Lösung wirklich mit dem Lob Gottes an und setzt sich fort in der Wahrnehmung der eigenen und so gesegneten Lebensgeschichte. Vielleicht erleben wir es dann, dass er unser „Leben vom Verderben erlöst“, dass er uns „krönt mit Gnade und Barmherzigkeit“, dass er unseren „Mund fröhlich macht“ und wir uns aufschwingen, weil wir „jung werden wir ein Adler“.
Die Welt bleibt wie sie ist, aber sie ist nicht ohne Hoffnung und wir Christinnen und Christen spielen dabei eine wichtige und entscheidende Rolle, denn wir sind die Herausgerufenen, die im Namen Jesu Gutes tun, weil wir Gutes erfahren haben und es nicht vergessen können.
Michael Noss
Präsident