LONDON CALLING
Studienfahrt des Arbeitskreis Missional
Toni saß auf seinem Platz und schenkte den vorbeilaufenden Menschen ein Lächeln. Ab und zu blieben Menschen stehen und unterhielten sich mit ihm über den Tag. Toni hatte Zeit für sie und hörte zu. Einige davon kannte er mit Namen und man merkte, dass Toni diese Menschen schon länger kannte. Er sah es als seine Aufgabe an, den vorbeieilenden Menschen mit Hoffnung und Freundlichkeit zu begegnen. An diesem Tag hatte Toni für mich Zeit und wir aßen gemeinsam zu Mittag, lernten jeweils etwas aus dem Leben des anderen. Dabei erzählte er von seinem Projekt, mit dem er in Peterborough ein Zeichen der Hoffnung setzt, indem er hier saß und Zeit für die Menschen hatte und ihnen ein Lächeln schenkte. Christus war natürlich schon da, und er hatte hier vor diesem Laden auf mich gewartet. Toni ist obdachlos.
„Lizzi wird nachher kommen“, sagte mir Chris Duffet. Sie hatte einen Gesprächstermin mit Chris, einem missionalen Erfinder von so wunderbaren Projekten wie der Nightchurch in Chester, die aus einem Straßeneinsatz unter Drogenabhängigen entstanden ist und die Türen zu einer bis dato unentdeckten Ecke des Reiches Gottes geöffnet hat. Inzwischen wirbelte Chris durch Peterborough und führte unsere Gruppe in die Welt derjenigen Menschen dort ein, die dringend unsere Umarmung und unsere Leidenschaft als gute Zuhörer und Beter benötigten. So standen wir kurzerhand etwas später in Peterborough, um den Menschen unser Ohr und unsere Gebete zu schenken, die diese größtenteils dankbar annahm. Wir hielten Schilder hoch, auf denen stand „Free Hugs“, „Free Water“. „I’ll listen – you will chat“ oder „Need a prayer?“.
„Hier ist mein Skizzenblock, meine Stifte. Fang an! Male ein Bild für Lizzi. Bete und sieh, was Gott dir für sie gibt.“ So hatte ich mir die Einführung in „prophetic drawing“ zwar nicht vorgestellt, aber Chris‘ Gabe der Ermutigung duldete keinen Widerspruch. Das Bild, das dabei entstand, sollte genau das sein, auf das Lizzi gewartet hatte. Plötzlich stand aber eine Frau neben mir, sah mit Tränen in den Augen auf meine Kohlezeichnung und behauptete: „Das ist mein Bild - oder?“ Ich war ein wenig irritiert und stammelte etwas davon, dass es für Lizzi sei. „Ich bin Lizzi; es ist genau das, was ich jetzt von Gott sehen und hören musste.“ Prophetic drawing: Gott spricht – natürlich auch in Pubs, auch zu Menschen, die Lizzi noch nicht kannten.
Sandbanksy. Die Graffitis von Banksy begleiten mich schon länger. Irgendwie bringt er die Dinge in seinen Bildern immer auf den Punkt und trifft den Nerv da, wo wir in der Gesellschaft lieber wegsehen und uns innerlich ärgern, statt etwas zu tun. Jim Kilpin ist so ein Banksy. Er malt kleine Labyrinthe in den Sand von Southend on Sea. Labyrinthe bringen die Dinge auch auf den Punkt. Ist man den langen, verschlungenen Weg abgeschritten, landet man irgendwann im Zentrum. Hier, im Zentrum begreifen die meisten Menschen, die in das Labyrinth gegangen sind, dass es sich nicht nur um ein Kunstwerk im Sand handelte, sondern dieser Weg mit ihrem Leben zu tun hat und dass Christus ins Zentrum rücken möchte. So mancher, wird uns berichtet, hat hier einen Anknüpfungspunkt gefunden, aus dem Labyrinth des Lebens die Frage nach Christus persönlich neu zu stellen.
Peter Dominey steckt hinter der „Church from Scratch“, die es unter anderem in Southend on Sea gibt. Es ist der gutgelingende Versuch, Gemeinde neu auf die alten, einfachen und wesentlichen Dinge zurückzuführen und nach ihnen zu leben. Menschen, die aus Labyrinthen kommen, oder Menschen aus der Nachbarschaft haben hier ein geistliches Zuhause gefunden: Ein Haus für Wohngemeinschaften und einem Pizzaofen im Garten gehören dazu. Hier können die Menschen gemeinsames Leben von Grund auf durchbuchstabieren. Auch der Secondhandladen „Shared Space“ gehört zum Netwzerk „Church from Scratch“. Dort erhalten die weniger angepassten Einwohnern der Stadt eine zweite Chance in den Arbeitsmarkt oder einfach nur gute, bereits erprobte Kleidung zu bezahlbaren Preisen. Auf diese Weise vermittelt die Gemeinde etwas vom christlichen Ideal der Teilhabe.
Ein weiteres Projekt im Netzwerk ist „57West“: Ein trendiges Café, um den Studenten der Stadt einen hippen Ort zu bieten, an dem sie mit Gott neu in Berührung kommen können. So war jedenfalls die Idee von Dan Pratt. Von diesen Studenten hat bis heute niemand den Weg in den Laden gefunden. Stattdessen sind ziemlich viele „Trendsetter in Sachen Bürgersteigcamping“ gekommen. Der Ort ist der richtige, das Angebot im Prinzip auch; nur das Publikum ist so ganz anders. Die Menschen, die keinen eigenen Ort haben, haben jetzt eine Adresse in Besitz genommen, an dem sie Gemeinde sind. Er ist ein lebendiger Teil des „Church from Scratch“- Netzwerkes in Southend on Sea. Gottes Spuren findet man hier in Southend on Sea überall - manchmal, vor der Flut, auch im Sand, wenn Sandbanksy nachts unterwegs war.
Paul Unsworth sitzt mit uns im Kahaila Café. Der Kuchen ist ausgezeichnet. Im doppelten Sinn, denn er ist wirklich ausgezeichnet worden, weil er besser ist als alle anderen Kuchen, die man in London findet. Dieser Kuchen ist mit besonderer Liebe gebacken worden von Frauen, die in ihrem alten Leben durch Menschenhandel in der Sexindustrie verkauft wurden und hier in der Bäckerei von Kahaila einen Neustart machen können. Paul erzählt uns von der Bricklane Street, einer Straße mitten in einem Londoner Szeneviertel, wo das Leben besonders bunt zu sein scheint, und manchmal auch sehr kaputt. Mittendrin ist der Standort von Kahaila, einer Gemeinde, die als Ort auch ein Café ist und inmitten dieser bunten Szene Menschen so begegnet, dass das Evangelium für sie Geschmack bekommt. Und der ist ausgezeichnet!
„The Big Hearted“, die mit dem großen Herzen, sind im „Pioneering Collective“ vereint – dem „Kollektiv der Pioniere“ in Sachen Reich Gottes unter den Menschen. Ein Projekt, das Simon Goddard betreut mit der Idee, dass all die kleinen, mutigen und unkonventionellen Initiativen miteinander verbunden sind und sich gegenseitig unterstützen. Damit sie wissen, dass man nicht alleine ist mit der Idee, Kirche auch mal anders zu denken. Zu hören, dass es nicht verkehrt ist, wenn man sein Kirchengebäude einfach verkauft, um an anderer Stelle mit dem erhaltenen Geld neu zu starten. So, wie es ein 83-jähriger Gemeindevorstand tat, der mit zwei anderen Gemeindemitgliedern übrig geblieben war, und sich wie Mose mit 80 Jahren noch einmal auf die Reise gemacht hat, weil Gott mit der verbliebenen Gemeinde ganz woanders hinwollte. Im Kollektiv ermutigen sich die Leute von „The big hearted“ und lernen voneinander, beten füreinander, wenn Dinge schwierig sind, und sehen: „Ihr seid nicht allein, wir gehen mit!“ Mitgehen, dahin, wo Kirche nicht ist - mit einem großen Herzen.
Dawn Cole-Savidge und Luke stehen in dem altehrwürdigen Gebäude der Baptistengemeinde in Bloomsbury. Sie könnten wohl kaum unterschiedlicher von ihrem äußeren Erscheinungsbild sein und dennoch gehen sie gemeinsam einen steinigen Weg in die Szeneviertel von Soho. Soho ist der Teil Londons, wie uns berichtet wird, mit dem höchsten Anteil an homosexuellen Menschen. Hier haben sie ihre Treffs. Sie sind die Menschen mit der höchsten Selbstmordrate in England. Für diese Menschen will die Baptistengemeinde offen sein. Sie will denjenigen Nähe zeigen, die meistens nur Ablehnung erfahren. Und sie will die Liebe Gottes an Orte tragen, die andere meiden. Die „DNA“ der Gemeinde wurde bereits mit ihrer Erbauung festgelegt: Bloomsbury Baptist Church sollte von Anfang an eine Gemeinde sein, die präsent ist für Menschen, denen Pharisäer nie begegnen wollten. Luke erzählt als homosexueller Pastor von seiner Geschichte und wirkt auf mich dabei sehr verletzlich. Letztlich weiß er genau, wie die Menschen sich fühlen, denen er auf dem steinigen Pflaster Sohos begegnet, um die Liebe Gottes mit Menschen zu teilen, die sich vor allem nach einem sehnen: der Liebe Gottes.
Reverend Helen Wordsworth startete vor zwölf Jahren den Dienst „Parish Nursing Ministry“. Sie führt aus, dass ein Fünftel der Texte in den Evangelien beschreiben, wie Menschen von körperlichen Gebrechen geheilt und befreit werden, wie Jesus sich ihnen zuwendet und verdeutlicht, dass das Evangelium ganzheitlich gemeint ist und den ganzen Menschen einbezieht. Wieso kommt das in unseren Gemeinden so selten vor? Auch in England stehen Menschen oft vor der Situation, dass das Versorgungssystem für Kranke an seine Grenzen kommt. Parish Nursing greift diese Not auf und hat inzwischen über 80 Projekte in England, Schottland und Wales, in denen Gemeinden Krankenschwestern angestellt haben, um den Kranken in den politischen Gemeinden und den christlichen Gemeinschaften diesen Teil des Evangeliums zurückzubringen. So arbeiten sie mit Ärzten vor Ort zusammen, sind am Wochenende in den Gemeindehäusern präsent und besuchen die Kranken in ihren Häusern. Mit einem Unterschied zu anderen Krankenschwestern: Sie sind im Auftrag des Herrn unterwegs!
Andy Poultney begrüßt uns in der „Deeper Church Lounge“. Ein „fresh X“-Projekt (fresh expressions – frische Ausdrucksformen) der anglikanischen Kirche, die mit der Lounge den Versuch unternimmt, Gemeinde dorthin zu tragen, wo die Menschen sind – meistens mitten in ihrem Alltag, mitten im Zentrum der Stadt. So kooperieren sie z.B. mit den „Street Pastors“, die uns Monica aus Lateinamerika vorstellt. Sie weiß, wie die Gewalt in den Favelas Südamerikas um sich greift und wie man Kriminalität im Kleinen unterbindet. Die Straßenpastoren bilden keine Bürgerwehr oder Miliz, sondern sind als Christen erkennbar in den Städten Englands unterwegs, um als Friedensstifter an den Brennpunkten zu sein, wo Gewalt entsteht oder Streit geschlichtet werden muss. Manchmal reicht auch eine Tasse Kaffee, die sie zur Hand haben. Inzwischen ist belegt, dass dort, wo die Christen einer Stadt als Street Pastors unterwegs sind, die Kriminalitätsrate spürbar gesunken ist. Wenn Christen in das Leben ihrer Stadt eintauchen und den Schalom Gottes verbreiten, dann kann man wohl von „Deeper Church“, reden – von einer Kirche, die tief im Leben und im Evangelium verwurzelt ist.
Ian Bunce, Pastor der Romford Baptist Church hat ein Händchen für andere Kulturen. Vielleicht war er deswegen auch der richtige Mann, um diese Reise im Hintergrund für uns zu organisieren. Der Gottesdienst unterscheidet sich kaum von einem klassischen Gottesdienst in unseren Baptistengemeinden. Er hätte auch in Flensburg sein können oder Brandenburg oder Spandau ... Was auffiel, war der große Anteil unterschiedlicher Kulturen, die miteinander Gottesdienst feierten. Wenn Gemeinde nicht wartet, dass die Welt zu ihr kommt, sondern sie sich auf den Weg in die Welt macht, dann kommt vielleicht so etwas wie Romford Baptist Church dabei heraus. Die Bereitschaft, den Fremden willkommen zu heißen, zeichnete auch diese Begegnung aus.
Die Offenheit, voneinander zu lernen, aber auch zu zeigen, wie man den Glauben im eigenen Kontext versteht und lebt, brachte die Reise in dieser letzten Begegnung auf den Punkt. Sie ist ein Aufruf, Gemeinde in die Welt zu bringen und nicht darauf zu warten, dass die Welt in die Gemeinde kommt. London calling, ein Ruf, der nachhallt.
André Peter
AK Missionale Gemeinde
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