Christen und Juden
Das Volk Israel und die Gemeinde Jesu Christi
Wie stehen Christen zu Juden? Nach der Mitschuld von Christen an der Schoah, dem millionenfachen Mord an Juden, keine einfache Frage. Der Abschnitt zum Verhältnis von Israel und Gemeinde zeigt: Christen und Juden sind in einer Hoffnungsgemeinschaft verbunden.
Zwei Größen setzt dieser Abschnitt der Rechenschaft vom Glauben (RvG) in Beziehung: Das Volk Israel als eigene Größe und seine Bedeutung aus der Perspektive des christlichen Glaubens. Das „wir“ im Text ist daher meistens „wir Baptisten“ (oder Christen) und nicht „wir Christen und Juden“. Doch die die Worte stellen keinen Gegensatz auf, sondern verbinden beide Gruppen miteinander.
Erwählt
Allein der erste Abschnitt spricht viermal von der Erwählung des Volkes Israels. Gott hat dieses Volk auserwählt. Der Erwählungsvorgang aus allen Völkern ist einzigartig, verbunden mit Abraham (1 Mose 12,1-3) und ein Ausdruck der großen schöpferischen Macht Gottes. Gottes Liebe zu allen Völkern findet ihren besonderen Ausdruck im Bund mit diesem besonderen Volk. Hosea 11,1-9 gilt gewissermaßen als das „Hohelied der Liebe“ im Alten Testament: Der Prophet beschreibt, wie Gott immer an der Berufung Israels festgehalten hat, auch wenn das Volk nach Zeugnis der Schrift in einzelnen Situationen untreu gewesen ist. Die Erwählung Israels hat eine leuchtende Funktion: Nach Jesaja 49,6 ist Israel wie ein helles Licht, das die ganze Völkerwelt erhellt. Israel wird zum Segen für alle Völker. Das ist ein andauernder Vorgang, der noch nicht abgeschlossen ist.
Zeichen der Treue Gottes
Die alltägliche Diskriminierung und der millionenfache Mord an Juden ist besonders in der Geschichte des deutschen Volkes eine schwerwiegende Erfahrung von Schuld und Versagen von Christen und anderen Menschen gegenüber Juden. Dass bis in die Gegenwart das Volk der Juden existiert deutet die RvG zusammen mit anderen als „Zeichen der Treue und Barmherzigkeit Gottes“. Gott hat sich immer wieder zu seinem Volk gestellt, auch als es gefährdet war.
Ungekündigter Bund
Paulus schwärmt in 2. Korinther 3 geradezu von dem „neuen Bund“, den er im Glauben an Jesus Christus gefunden hat. Paulus wird zum Völkerapostel, der von der „Herrschaft der Gnade für alle Menschen“ predigt. Die RvG hält dabei unmissverständlich fest, dass Gott „seinen Bund mit Israel nicht aufgekündigt hat“. Die Erwählung und Berufung, von der schon im ersten Abschnitt des Textes die Rede war, bleibt bestehen. Damit soll unbedingt eine Fortsetzung der Diskriminierung und Ächtung von Juden durch Christen ausgeschlossen werden. Das Volk Israel und die Gemeinde Jesu Christi haben kein negatives, sondern ein positives, verbindendes Verhältnis zueinander.
Jesus Christus
Als Erkenntnis von Christen wird Jesus Christus „Heiland der Welt“ bekannt und auch der „Messias für Israel“. Als Fachkreis Christen und Juden im BEFG haben wir den Text der RvG auch mit dem Rabbiner Dr. Gabor Lengyel (Hannover) diskutiert. Der Rabbiner hat einerseits stark anerkannt, dass der Text respektvoll vom Volk Israel spricht. Andererseits sei „sehr viel von Jesus“ die Rede, so der Rabbiner. Das sei nicht zu übersehen. Wir Christen müssen die eigenen Grundüberzeugungen also nicht verbergen, wenn wir Juden respektvoll begegnen wollen, auch – und vielleicht gerade nicht – wenn ein Gespräch über den Glauben geführt wird. Die biblischen Texte bringen die Verschiedenheit und zugleich Verbundenheit von Israel als Volk Gottes und der Gemeinde Jesu zum Ausdruck – und so tastet sich auch der dogmatische Text der Rechenschaft entsprechend vor. Jeremia 31,31-34 ist die einzige Stelle, in der im Alten Testament vom „neuen Bund“ die Rede ist. Dieser Abschnitt ist zugleich das ausführlichste Zitat im Neuen Testament. Nach Jeremia gilt der „neue Bund“ gerade dem Volk Israel selbst und ist ein Geschenk Gottes. Daher ist dies ein erneuerter Bund. Bei der Überarbeitung des Abschnittes 2019 wurde übrigens die Überschrift geändert, in der noch vom „alten Bund“ die Rede war.
Verheißung
Die ersten Verheißungen und großen Versprechen Gottes galten alle dem Volk Israel. Dies ist eine historische Reihenfolge und auch eine theologische Rangfolge. Israel ist das Volk der Verheißung. Die Tora beginnt nach der Urgeschichte mit der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Menschen, die Jesus Christus nachfolgen, nehmen diese Verheißung Israel nicht weg oder lösen sie ab, sondern bekommen Anteil an den Verheißungen Gottes. Wenn ich mir das Verhältnis von Israel als Volk Gottes und der Gemeinde Jesu Christi klarmache, dann sehe ich einen inneren Kreis, und den bildet zunächst das erwählte Volk Israel. Dieser Kreis wird durch die Nicht-Juden, die an Jesus Christus glauben, erweitert. Der Kreis wird größer. Christen glauben, dass diese „Erweiterung“ durch die unsichtbare Mitte, durch Jesus Christus möglich wird. Gott ruft und sammelt Juden und Menschen aus anderen Völkern zu einem Volk Gottes. Schon der Prophet Micha sieht diese Sammlungsbewegung wie eine Völkerwallfahrt zum Gottesberg Zion (Mi 4,1-4).
Hoffnungsgemeinschaft
Der ganze erste Teil der Rechenschaft vom Glauben handelt von der Aufrichtung der Herrschaft Gottes. Wie sieht Gottes neues Reich aus? Israel hofft mit den Worten der alten Propheten auf eine endzeitliche Gottesherrschaft. Der Prophet Daniel sieht beispielsweise, wie Menschen aller Völker und Sprachen Gott dienen und ein ewiges Königreich beginnt (Dan 7,13-14). Auch die Gemeinde Jesu wartet voller Hoffnung auf die Wiederkunft Jesu Christi und so auf diese neue, ewige Herrschaft. Christen glauben zwar, dass dieses Königreich bereits mit Jesus Christus angefangen hat, aber es ist noch nicht perfekt und vollkommen da. „Die Gemeinde Jesu Christi erwartet gemeinsam mit dem Volk Israel ihre volle Verwirklichung.“ Dieser Schluss des Abschnitts setzt einen bedeutenden und starken Ton. Christen und Juden sind eng verbunden in einer Hoffnungsgemeinschaft. Der Weg der Hoffnung ist unterschiedlich, aber das Ziel ist gemeinsam: Ewige Gemeinschaft mit Gott.
In leichter Sprache
In der Ausgabe 02/2020 der Zeitschrift HERRLICH habe ich den Text der Rechenschaft vom Glauben in eine „einfache Sprache“ übersetzt. Der Abschnitt kann als Gesprächseinstieg und Hilfe dienen. Das ganze Heft steht kostenlos zum Download auf der Homepage des GJW zur Verfügung und ist auch auf der Internetseite des Fachkreises zu finden.
Einladung zum Weiterdenken
Erfahrungen: Wie sind Sie bisher Jüdinnen und Juden begegnet? Von welchen persönlichen Kontakten oder Erfahrungen können Sie erzählen?
Haltung: Wie ist es möglich respektvoll mit anderen zu sprechen und zugleich zu seinem eigenen Glaubensbekenntnis zu stehen? Welche Grenzüberschreitungen sind auf beiden Seiten möglich?
Bibel: Wenn Sie Hosea 11,1-9 und Micha 4,1-4 gemeinsam lesen – welches Gottesbild entsteht durch diese Texte?
Gottesdienstpraxis: Begehen Sie in Ihrer Gemeinde den Israelsonntag? Warum ja, warum nicht? Wie wäre es die neuste Handreichung dafür zu nutzen?
Provokant: Inwiefern gehört für Sie als Kennzeichen einer christlichen Gemeinde, sich zu den jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens zu bekennen und Juden gegen Antisemitismus zu schützen?
Erschienen in: Die Gemeinde 09/2022, S. 14-15.
Ein Artikel von Dr. Michael Rohde, Pastor der EFG Hannover-Walderseestraße und Leiter des BEFG-Fachkreises Christen und Juden
Kommentare (3)
Volker Warmbt
am 06.05.2022Michael Rohde
am 07.05.2022Roswitha Wipf
am 18.04.2022