
Kongresspalais in Kassel - Veranstaltungsort der Bundesratstagung
Foto: David Vogt
Lyrik in Pompeji und Mondaufgang im Wohnzimmer
Ein Abend mit Soul, Food and Sharing – mit Seele, Essen und Teilen
Stille in einem Gebetsgarten. Nebenan Worship in melodischen Tönen. Dazu Abendmahl, Gedichte, Spiele und Pommes. Wie passt das alles zusammen? Was hat das mit dem Bundesrat zu tun? Eine Reportage.
Fünf Räume zum Wandern
Ziel der Gestaltung des gesellschaftlichen Abendprogramms am dritten Tages der Bundesratstagung 2025 war es, den Teilnehmenden nach vielen Sitzungen und Diskussionen Entspannung zu ermöglichen. In fünf Räumen konnten die parallel angebotenen Programmteile in einem Zeitraum von eineinhalb Stunden wahrgenommen werden. Im Sinne des Gedichts „Wir gehn dahin und wandern“ des evangelischen Kirchendichters Paul Gerhardt aus dem 17. Jahrhundert, blieben die Entspannungsräume offen und luden ein zum „Wandern, vom einen zum andern“.
Lyrik im Pompeji-Saal
Lyrik gab es dann sogar tatsächlich. Zusammen mit Klaviermusik. In einem Saal neben dem großen Konferenzraum. Er diente einst als Hochzeitssaal, erfahre ich. Er ist über und über mit feinen Pinselstrichen ausgemalt. Die vorherrschenden Farben sind Schwarz, Grün und Terracotta. Die griechische Göttin der Jagd, Diana, und Neptun, der antike Herrscher der Meere, blicken von den Wänden herunter. Gestaltet hat diesen Saal im „pompejianischen Stil“ der Kasseler Dekorationsmaler Arno Weber. Heute heißt der Saal „Gesellschaftssaal“ und hier sitze ich nun und lausche, was in diesem Raum, der mit Besuchern gut gefüllt ist, auf uns zukommen wird.
Gedichte und Musik bietet hier Professor Dr. Hans-Joachim Eckstein von den Universitäten Tübingen und Heidelberg an. Er ist Theologe und Lyriker. Wie einst Paul Gerhardt. Eine Lesung von Kurztexten und Lyrik, mit musikalischen Zwischentönen des Pianisten Konrad Lammers bekommt das Publikum geboten. Eckstein, der in seinem langen blauen Wollmantel so gar nicht professoral auftritt, verbindet damit zwei Absichten. Zum einen möchte er sein Publikum unterhalten, zum anderen „Inhalte vermitteln“. „Denn auch humorvolle lyrische Texte haben eine tiefere Absicht“, erklärt er mit einem Augenzwinkern. „Ich möchte erheitern und unterhalten aber auch in Lebensfragen und geistlichen Fragen ermutigen.“
Wer sich auf dieses Angebot einlässt, versinkt an diesem Abend träumerisch in Versen und Aphorismen, gleitet mit den Piano-Intermezzi für Augenblicke in eine andere Dimension des In-sich-Hineinhörens. Aber Eckstein möchte auch Feedback. Er gibt dem Publikum Gelegenheit zu Fragen. Eine Art der Interaktion zwischen den beiden Vortragenden und den Zuhörern. Setzt dann seine Wortbeiträge fort und endet mit einem dichterischen Gebet:
„Ich ahne jenseits meiner Fragen / Du wirst zwar völlig anders sein / Nicht Antwort nur auf mein Verlangen / Das suchte ich in frühren Tagen.“ So lauten die ersten Verse. Das Gebet entfaltet sich weiter und beschäftigt sich mit der vertieften Erkenntnis Gottes. Was möchte Eckstein mit dieser Art Lyrik erreichen? „Ich wünsche mir, dass die Teilnehmer des Abends zuversichtlich und getröstet, motiviert und erfreut in den weiteren Abend und in die Nacht gehen“, sagt der Professor. Und strahlt dabei eine so große Ruhe und Gelassenheit aus, dass alleine diese Aussage schon das bewirken kann, was er beabsichtigt.
Gebetsgarten: „Diese Ruhe!“
Um Stille und „Herunterkommen“ geht es auch fünfzig Schritte weiter, in einem ganz anderen Raum in einem modernen Glas-Beton-Gebäude. Dort gibt es den „Gebetsgarten“. Vier Personen treffe ich an, als ich hineingehe. Drei Frauen und einen Mann. Aber, wo ist der Garten? Erst als sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben – es ist kein Licht eingeschaltet – sehe ich eine Reihe von Stellwänden. Hier sind stilisierte Blumen aufgemalt, dort eine Natursteinmauer und woanders noch ein Kerzenmeer. Birgit steht vor der Kerzenstellwand, hat den Zeigefinger ihrer rechten Hand in ein Farbtöpfchen aus Fingerfarben getaucht und tupft kurz darauf gelbe Farbe aufs Papier. „Ich habe die letzten Tage hier beim Bundesrat sehr viele Impulse bekommen“, berichtet sie mit gedämpfter Stimme. „Mich treibt sehr viel um. Ich dachte, ich brauche jetzt einfach mal Stille und möchte zu mir selbst kommen. Ich möchte hier meine Gedanken sortieren.“
Und dann plötzlich, sichtlich bewegt, fügt sie noch hinzu: „Ich denke an meine Mutter, die dem Ende entgegengeht.“ Ich schweige mit ihr. Und denke: Während die Delegierten in diesen Tagen über die Zukunft unseres Bundes beraten, liegt irgendwo die Mutter einer unserer Schwestern im Sterben. Für einen Moment stelle ich mir die Frage nach dem, was im Leben zählt. „Die Mutter ist’s!“ – dieser alte Trauerspruch kommt mir in den Sinn und ich bin plötzlich emotional ganz eng mit Birgit verbunden. Und denke in Stille an meine eigene verstorbene Mutter.
Zwei Schritte weiter steht Uta vor der gemalten Feldsteinmauer. Ich sehe ihr an, sie ringt mit sich. „Der Tag war so voll“, flüstert sie. „Mir geht sehr vieles durch den Kopf. Auch die Entscheidungen, die getroffen werden müssen. Aber auch in meiner persönlichen Lebenssituation. Jede Gemeinde hat ihre eigenen Herausforderungen. Und die können einen auch persönlich ganz schön mitnehmen.“ Uta hält ein Zettelchen in der Hand. „Das hier ist die Klagemauer“, erklärt sie mir. „Ich bin gerade dabei, mal eine Klage zu formulieren. Hier steht: ‚Deine Klage ist bei Gott gut aufgehoben‘. Das versuche ich jetzt mal.“
Und dann ist da noch Jürgen. Er trägt eine Base Cap mit dem Logo des VfB Stuttgart. „Der ist vor wenigen Tagen DFB-Pokalsieger geworden“, sagt Jürgen voller Lokalstolz. Doch was bewegt den Fußballfan, in den Gebetsgarten zu treten? „Ich habe eben einfach mal fünf Minuten hier nur auf dem Boden gesessen und für mich gebetet. Und diese Ruhe – die war ganz toll. Weil, so eine Ratstagung ist ja doch ziemlich hektisch.“
Worship im Wohnzimmer
Direkt nebenan ein weiterer Betonraum. Der heißt an diesem Abend plötzlich „Wohnzimmer“. Und hier greift der Dortmunder Jan Primke in die Saiten seiner Gitarre. Ich hatte mich mit ihm vorher schon unterhalten. „Seit 15 Jahren mache ich Musik beim Bundesrat und wir haben in all den Jahren so viele unterschiedliche konzertante Dinge ausprobiert, dass immer mal gewünscht wurde, eine Möglichkeit zum Mitmachen zu bekommen“, erklärt er sein Vorhaben für den Abend. „Vor allem fehlte vielen Teilnehmern ein längerer Worship-Block. Deshalb hatten wir letztes Jahr schon einen Worship-Abend angeboten und setzen dies nun auch dieses Jahr fort.“ Der Auftaktsong liefert gleich die Erklärung für die Namensgebung des Raumes, denn er trägt den Titel „Wohnzimmer“ und stammt von Dania König, Winni Schweitzer und Jan Primke aus dem Jahr 2021. „Wir haben den Song geschrieben, weil wir Gott in unserem Wohnzimmer ehren wollten, wenn wir Gäste einladen. Ich möchte aber auch die Fenster aufmachen und das Lied aus meinen vier Wänden herauslassen und in der Welt von Gott erzählen“, sagte Jan vor Beginn des Liedes.
Primkes Band spielt an dem Abend eineinhalb Stunden durch, manchmal Songs, manchmal nur untermalende Sounds, währenddessen Gebete gesprochen werden. Drei Studierende der Theologischen Hochschule Elstal bieten außerdem Abendmahl und Segnungen an. Das „Wohnzimmer“ ist komplett gefüllt mit überwiegend jüngeren Besucherinnen und Besuchern. „Ich will mich an diesem Abend mal fallen lassen und Gott die Ehre geben“ sagt eine Teilnehmerin. Die Tür zum Raum bleibt überwiegend offen, denn drinnen ist die Luft aufgrund der vielen Besucher eng.
Mit dem letzten „Song“ gelang Primke dann noch eine Überraschung: Wer hätte das gedacht? Das deutsche Volkslied „Der Mond ist aufgegangen“ von Matthias Claudius aus dem Jahr 1779 füllt plötzlich das „Wohnzimmer“, mit den so wunderbar passenden Schlussversen „Verschon uns, Gott, mit Strafen / und lass uns ruhig schlafen / und unsern kranken Nachbarn auch“. Da muss ich wieder an Birgit denken und an ihre sterbenskranke Mutter.
Primke hatte einen Wunsch zu Beginn des Abends: „Dass wir alle sehr beseelt und von Gott reich beschenkt hier wieder herausgehen.“ Daran habe ich keinen Zweifel.
Berührungspunkte finden
Agathe Dziuk, Referentin für Diakonie und Gesellschaft an der Akademie Elstal und Dienstbereich Mission, finde ich im Freien. Auf einem Hof. Sie gestaltete den „Raum für Spiele und Begegnung“. Das ist kein Zimmer oder Saal. Agathe nutzt einfach freie Flächen. „Die Spiele, die sind ein Angebot für Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die noch nicht so vernetzt sind wie viele andere. Manche sind ja zum ersten Mal hier und kennen niemanden. Spiele können ein Einstieg sein, erste Berührungspunkte zu finden“, glaubt sie. Ihr Ziel ist es, dass der Spieleabend von selbst läuft. „Wenn aber nix läuft“, dann will sie durchaus auch mal einzelne ansprechen und sie zu Spielen einladen. Zum Beispiel diejenigen, die alleine herumsitzen und mit ihren Mobiltelefonen beschäftigt sind.
Da liegen sie, auf Holztischen, Bänken, Sesseln: Gesellschaftsspiele, die man in kurzer Zeit spielen kann. „Am besten nur eine Runde“, sagt Agathe, „damit man viele Spiele spielen kann.“ Uno, Jenga, oder „Stadt, Land Baptist:in“ (nach Stadt, Land, Fluss). Es geht ums Animieren, mit anderen in Kontakt zu kommen. Ich bin ein wenig skeptisch. Agathe lacht. „Das wird schon.“
Später am Abend glaube ich dann, dass Agathe recht hat: Beim Kartenspiel „Halligalli“, bei dem auch eine Glocke betätigt werden muss, kann ich das Giggeln, Lachen und Rufen definitiv hören. Da waren sie also, die Berührungspunkte derjenigen, die bislang nicht vernetzt waren.
Geist und Körper
Und dann gibt’s da noch die GJW-Pommes. Auf dem gleichen Hof, auf dem man auch spielen kann. Schon von weitem weiß ich ohne Wegweiser, wo frittiert wird. Die lange Menschenschlange, die mich spontan an Jugendtage in der DDR erinnert, lässt keinen Zweifel, wo es die Pommes Frites zu kaufen gibt. Tobias Köpke, Referent für den Freiwilligendienst beim Gemeindejugendwerk, frittiert ebenso wie im vergangenen Jahr die Kartoffelschnitze. Es ist eine Fundraising-Aktion für die Mitarbeitendenkonferenz MLI im Herbst. 300 Portionen Pommes mit einem Spendenerlös von drei bis fünf Euro pro Portion haut er raus. „Haste noch’n anderen Grund, als Spenden zu sammeln?“ frage ich Tobias. „Klar, unser Ziel ist es, dass die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Bundeskonferenz den Abend gemeinschaftlich genießen und neben dem Geistlichen auch etwas für den Körper bekommen“, kommentiert Tobias und bedeutet mir durch seine Körpersprache, dass ich ihn nicht länger aufhalten soll. Recht hat er. Die Schlange der Wartenden hat sich während unseres Gesprächs beträchtlich verlängert.
Zu guter Letzt
Wie alles so selbstverständlich ineinander greift, denke ich mir. Wie wunderbar sich die Themen des Gesellschaftsabends ergänzen. Wie aus einem Guss. Die Stille des „Gartens“ neben dem Lobpreis für Gott, die Gedichte im Pompeji-Raum und die knusprigen Pommes für das leibliche Wohl. Und so denke ich heute Abend wie Heinrich Heine „an Deutschland“, und sehe, dass die Sehnsucht nach Gott in unserem Land trotz vieler Unkenrufe da ist, sichtbar ist. Und während ich diese Zeilen zu Ende bringe, ist der Mond aufgegangen und auch ich habe meine innere Ruhe vom Tag gefunden. Gott sei Dank!
Ein Artikel von Tom Goeller