Straßenexerzitien
Wie Begegnungen „draußen“ den Blick auf Gott richten
Straßenexerzitien sind für BEFG-Diakoniereferentin Gabriele Löding eine besondere Quelle der Inspiration. Sie hat erlebt, dass Gott sich beim Unterwegssein auf der Straße oft auf überraschende Weise finden lässt.
Inspirationen, besondere Gedanken, Einfälle und Erlebnisse, die meinem Leben eine Tiefe geben und mein Verhältnis zu Gott und den Menschen intensivieren – das wünsche ich mir immer wieder. Das möchte ich erleben in besonderen Zeiten, aber auch im Alltag. Eine solche Inspiration wurden für mich die Exerzitien auf der Straße.
Es hat lange gedauert, bis ich mich darauf eingelassen habe. Doch dann war es soweit: Ich habe mich zu Straßenexerzitien angemeldet. Der einzige Zeitpunkt in meinem vollen Terminkalender, der passte führte mich nach Bern. Am Nachmittag kam ich mit dem Zug in der Stadt an. Vom Bahnhof aus war es nur ein kurzer Weg bis zur Dreifaltigkeitskirche, deren Gemeindehaus ein sehr einfaches Quartier – wie immer bei Straßenexerzitien – für uns zwölf Teilnehmende, Begleiter und Begleiterinnen bot. Nach einem ersten Kennenlernen und der Einführung gab es den Impuls für den ersten Tag auf der Straße: „Kommt erst mal an und verlangsamt euren Schritt.“ Ich merkte bald, dass sich das leichter anhörte als es sich umsetzen ließ. Mein Kopf war noch voll mit Gedanken, Terminen und Erlebnissen und mein Tempo war schnell. Erst als ich mich entschied, barfuß zu gehen (es war Sommer), die Schuhe und damit auch einen Schutz abzulegen, wurde mein Schritt bedächtiger. Eine Schnecke auf dem Weg wurde für mich zum Symbol für die Langsamkeit. Als ich dann auch mein Geld zu Hause ließ und nur ein Brot und Wasser mitnahm, wurde meine Konzentration auf das Wesentliche gelenkt. Ich war da, um Gott neu zu begegnen. Je mehr es mir gelang, mich auf die Gegenwart, den Ort an dem ich war, einzulassen, desto mehr konnte ich verweilen, desto intensiver konnte ich meine Umgebung und meine Gefühle wahrnehmen und darin die Spur Gottes finden.
Dass profane Orte zu heiligen Orten werden können, erfuhren wir in einem der Gottesdienste, die wir am Ende eines Tages feierten. Mose ist auf der Suche nach neuen Weideplätzen für seine Schafherde. Dabei kommt er an einem Dornbusch vorbei und sieht, wie dieser brennt, ohne zu verbrennen. Mose ist neugierig, nimmt sich Zeit zum Verweilen, Hinsehen und Hinhören und lässt sich von Gott ansprechen und berühren. Ich erlebte bei meinen Straßenexerzitien auch besondere Orte, zum Beispiel die Aare, den Fluss, der mit einer starken Strömung durch Bern fließt. Als ich mich an einem Tag in seine Strömung begab, merkte ich, wie sie mich vitalisierte, davon trieb und mir half, mich einfach hinzugeben, loszulassen und Gottes gute Schöpfung genießen zu können. Das führte mich zum Danken und Loben.
Ich erlebte aber auch anderes. An einem anderen Tag ging ich ins Amt für Migration. Im Wartebereich verweilte ich und beobachtete, wie Menschen unterschiedlicher Nationen aufgerufen wurden und immer wieder hinter einer Tür verschwanden, die sich nur für einen kurzen Moment öffnete. Eine Frau kam weinend wieder heraus und ging weg. Plötzlich überfiel mich selbst ein starkes Gefühl des Fremdseins. Ich fühlte mich fremd und allein dort in dem Amt und auf den Straßen Berns, bis ich zu einer Kirche kam. Sie war offen, ich ging hinein und saß lange dort. Langsam nahm ich wahr, wie ich mich im Fremdsein geborgen fühlte. Ich konnte annehmen, dass ich mich fremd, alleine, auf Hilfe angewiesen und bedürftig fühlte und spürte mich stark in Gott geborgen. Mir wurde klar: Alles Leben beginnt mit dem Bedürftigsein und endet auch so – wir leben als Empfangende. An diesem Tag wurde ich mit meinen Ängsten und Nöten konfrontiert, merkte aber, auch damit bei Gott gut aufgehoben und von ihm beschützt zu sein.
Ja, Gott begegnet mir immer wieder auf überraschende Weise, wenn ich mir die von Gott geschenkte Zeit dafür nehme. Bei den Exerzitien hatten wir viel Zeit: morgens für die Andacht, dann sechs Stunden auf der Straße und nach der Rückkehr Zeit, um Gottesdienst zu feiern, das Abendessen zu kochen und zu genießen. Danach hatten wir viel Zeit, damit jede und jeder aus der Gruppe über das Erlebte reden konnte. Das führte bei mir zu tiefer Dankbarkeit für die Erfahrungen des Tages und für das Anteilnehmen und -geben. Für mich wurden die Exerzitien zu einem Loslassen in die Zeit und die Anwesenheit Gottes hinein. Exerzitien auf der Straße heißt: Gott finden und sich von ihm finden lassen – auf der Straße beim Unterwegssein. Nicht ich will bei dieser Übung etwas für Gott tun, sondern Gott will mich überraschen und beschenken. Da Gott überall gegenwärtig ist, können wir ihn auch überall suchen und finden.
Die Bibel enthält viele Geschichten, die beschreiben, dass Menschen auf dem Weg, auf der Straße sind. Die Bibel erzählt von Menschen, die sich von Gott bewegen ließen. Wir lesen, welchen Weg Mose gegangen ist, Abraham und Sara, Rut, Noomi, und Jona, von den Wegen Jesu und seiner Jünger. Jesus war viel auf der Straße unterwegs, er ließ sich anrühren von Orten, er weinte über Jerusalem und er begegnete auf der Straße Menschen und seinem Vater.
Durch das Unterwegssein werden innere und äußere Prozesse angeregt, geraten in Bewegung. Wer in Bewegung bleibt, körperlich und gedanklich, bleibt auch im Glauben in Bewegung. Als Gläubige sind wir immer wieder aufgerufen den nächsten Schritt zu gehen, nicht stehen zu bleiben. Gott setzt uns auch heute noch in Bewegung.
Die Straßenexerzitien sind eng verbunden mit dem Jesuiten und Arbeiterpriester Christian Herwartz (*1943). Er lebte in einer offenen Kommunität in Berlin. Ende der 1990er-Jahre baten ihn Einzelne, ihre persönliche geistliche Auszeit gerade in diesem Umfeld zu begleiten. Aus diesen Anfängen erwuchs eine Bewegung, die inzwischen weit verbreitet ist und entwickelten sich vielfältige Formen von Straßenexerzitien. Zum Kennenlernen werden mehrstündige Straßenexerzitien angeboten, ansonsten dauern sie sieben bis zehn Tage. Bei Interesse biete ich gerne Exerzitien an.
Ein Artikel von Gabriele Löding