Beim Hingehen erlebt

Jahrzehnte später

Mitte Februar war ich zu einem Männerabend eingeladen. Kein Männerabend unter Freunden, eher ein „dienstlicher“ Männerabend. Gastgeberin war eine kleine lutherische Kirchengemeinde mitten in der ostfriesischen Einsamkeit.

Die Autofahrt bei Regen, starkem Wind und einsetzender Dunkelheit war anstrengend. Irgendwann sah ich in der Ferne mitten im Nichts der platten ostfriesischen Landschaft einen schwach angeleuchteten Kirchturm.

„Kirchtürme geben Orientierung“ dachte ich und schaltete mein Navigationssystem aus. Neben der Kirche lag im Dunkel eines mit großen Eichen umrandeten Platzes das Gemeindehaus der Kirche. Im Obergeschoß brannte Licht. Hier musste es also sein. Ich stieg die Treppen ins Gemeindehaus hinauf, öffnete die Tür und sah das, was man in Ostfriesland wohl unter Männerabend versteht: Ein knappes Dutzend älterer Herren im Kreis sitzend. Vor ihnen Tische.

Jeweils vor zwei Männern eine große Kanne Tee, ein Pott Kluntje und ein kleines Gefäß mit Sahne. Das sollte ausreichen. Sechs Kannen - zwei weitere Kannen für den Ernstfall sah ich noch auf der Fensterbank -  für knapp 12 Männer.

Man sprach plattdeutsch. Ich nicht. Glücklicherweise verstehe ich es aber. Ich ermunterte die Männer weiterhin platt zu sprechen. Offensichtlich freuten sie sich über diese Aufforderung, denn, so vermutete ich, ostfriesische Männerabend auf hochdeutsch sind nicht wirklich ostfriesische Männerabende.
Irgendwie hatte der Leiter des Männerkreises von der „Aufblasbaren Kirche“  erfahren, mit der ich zu tun habe. Es hatte sich bei mir gemeldet und in perfektem Hochdeutsch gefragt, ob ich nicht mal vorbeikommen könnte, um die Sache mit der Kirche vorzustellen und dann auch gleich das mit den Baptisten zu klären. Nach der Zusage staunte ich dann am Abend selbst nicht schlecht, als ich auf dem vor mir liegenden Themenzettel las: „Pfarrer Harkema aus Oldenburg: Was unterscheidet uns von den Babtisten?“ Harkema und Baptisten mit „b“.

Eigentlich ist das zu viel des Erträglichen, aber die versammelte Männerrunde, die wettergegerbten Gesichter, die mich freundlich anschauten, der Geruch von Stall, Natur und ostfriesischer Landluft, die Teekannen und die kuschelige Atmosphäre im Dachgeschoss des Gemeindehauses öffneten mir das Herz. Ich fing an, technisch unterstützt von einer Powerpoint-Präsentation, die Geschichte des Baptismus zu referieren. Dann sagte ich „Eigentlich möchte ich gar nicht darüber sprechen, was die Baptisten von den Lutheranern unterscheidet. Ich frage lieber: Was verbindet uns eigentlich?“  Wir kamen ins Gespräch. Die Männer berichteten von schönen und weniger schönen Erlebnissen mit freikirchlichen Bekannten. Natürlich kamen die Männer auch auf das Taufverständnis zu sprechen. Ich erklärte ihnen, wie „der Baptist“ das so sieht.

„Na ja, kann man verstehen. Die Hauptsache aber ist doch, dass wir alle an Gott glauben, oder?“ „Ja,“ sagte ich, „und noch bedeutsamer finde ich,  dass Gott uns alle liebt. Unser Glaube entscheidet nicht über Gott.“ Augenzwinkernd fügte ich hinzu: „Das sollten Sie als Lutheraner besser wissen als ich.“ Die Männer schmunzelten mich an. Wir schmunzelten uns an. Wir tranken die nächste Tasse Tee. „Das ist nicht gut, dass es so viele Kirchen gibt!“ und  „Meine Freunde sagen immer, ‚ihr Christen seid euch ja auch nicht einig.’“.  „Herr Pastor, was soll ich denn meinen Freunden sagen, wenn sie sagen ‚Ich glaube nicht an Gott. Die Kirche macht ja auch viele Fehler.’“ Es war ein angeregter, intensiver Männerabend.
Selbstverständlich standen wir Männer gemeinsam am Ende des Abends im Kreis und beteten mitten in der ostfriesischen Einsamkeit unter dem Dach des lutherischen Gemeindehauses miteinander das Vaterunser.

Auf dem Rückweg dachte ich: Das hätte sich mein Schwiegervater, der pensionierte lutherische Pfarrer, vor 50 Jahren sicher auch nicht gedacht, dass er einmal einen Schwiegersohn haben wird, der mit denselben Ostfriesen das Vaterunser beten wird, mit denen er es als junger Pastor gebetet hat. Er war in genau dieser Kirchengemeinde Vikar.

Dankbar bin ich nach Hause gefahren. Das Reich Gottes kommt. Nicht erst mit mir. Nicht nur in einer Konfession. Und nicht nur - aber auch - in Ostfriesland.

Carsten Hokema
15.02.2016