WIRKLICH ALTERNATIVLOS?!

Mit Polaritäten umzugehen

Im Gemeindealltag gibt es viel Stoff zum Diskutieren: Alte Choräle oder neue Lobpreislieder, Liturgie oder Spontaneität, Neues ausprobieren oder Altes bewahren, nach innen oder nach außen wirken, Diakonie oder Evangelisation, Gruppenarbeit oder Projektarbeit, Orientierung an Gaben oder Aufgaben, Freiheit oder Verbindlichkeit…

Die Liste ließe sich fortsetzen. In der Praxis werden die verschiedenen Positionen von Einzelnen oder Gruppen vertreten. Jede Seite ist von der Wahrheit des eigenen Standpunktes natürlich überzeugt und verteidigt ihn. Manchmal entstehen so handfeste Konflikte. Man versucht das Problem zu lösen, indem man seine Position gegen die andere Überzeugung durchsetzt.  Es gilt das Prinzip „Entweder-Oder“. Es kann nur eine Wahrheit geben. Darum erscheint der eigene Standpunkt alternativlos.

Tatsächlich lassen sich manche Probleme auf diese Weise nicht lösen. Und zwar immer dann, wenn wir es wie in den oben genannten Beispielen mit Polaritäten zu tun haben. Die beiden Standpunkte sind hier keine sich ausschließende Alternativen, sondern zwei Pole, die zusammengehören und auszubalancieren sind. Polaritäten erfordern darum einen anderen Umgang als Probleme. Probleme muss man lösen, Polaritäten muss man managen!

Dazu ist bei den Beteiligten eine kooperative Einstellung nötig: Nicht „Entweder-Oder“, sondern „Sowohl-Als-Auch“. Zu dieser Haltung verhelfen will die Methode „Polarity Management“  von Barry Johnson (www.polaritypartnerships.com).  Sie ermöglicht den Dialog zwischen den Vertretern der sich widersprechenden Positionen, fördert Wahrnehmung und Einfühlungsvermögen und macht sensibel auch für die Stärken des anderen Standpunktes und den eigenen „Blinden Fleck“.

Ein Beispiel aus der Praxis: In einer Gemeinde wird über die Gottesdienstgestaltung diskutiert. Die eine Seite möchte mehr Neues ausprobieren, die andere will Bewährtes beibehalten. Es geht also um die Polarität „Verändern und Bewahren“. Gemeinsam überlegen die Beteiligten zunächst, welche Vorteile es hat, wenn man den einen bzw. anderen Pol stärkt. Auf der Seite „Verändern“ fallen den Teilnehmern Erneuerung, Aktualität, Lebendigkeit und Spannung ein. Zum Stichwort „Bewahren“ werden Kontinuität, Stabilität, Verlässlichkeit und Sicherheit genannt. Dann tauschen sich die Beteiligten über die negativen Folgen aus, die sich einstellen, wenn man die beiden Pole überbetont. Bei „Verändern“ werden Chaos, Beliebigkeit, Verunsicherung, Überforderung aufgezählt, beim „Bewahren“ Langeweile, Stillstand, Banalität, Erstarrung.

Im Prozess sind die Beteiligten einen inneren Weg gegangen, der sich mit einer Endlosschleife darstellen lässt: Von den Vorzügen der eigenen Position über die negativen Folgen der ins Extrem gesteigerten anderen Position, können die Parteien nun auch sehen, wofür sie bisher blind waren: Die Vorteile der anderen Seite und die Schattenseiten des eigenen Standpunktes. Die Folge ist: Die Spannung nimmt ab. Beide Seiten erkennen, dass der eigene Standpunkt nicht alternativlos ist, sondern der Ergänzung bedarf. Aus dem Gegeneinander wird ein Miteinander. Gemeinsam können alle Beteiligten fortan versuchen, die Polarität zu managen, statt sie wie bisher als Problem zu behandeln.

Thorsten Graff, Pastor, Supervisor und Gemeindeberater, Stuttgart

Mit Polaritäten umzugehen

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