Offene Kinderarbeit im Plattenbau

Interview - Wie durch eine kleine Gemeinde in Sömmerda aus einer Zeltarbeit eine vielfältige sozial-missionarische Arbeit im sozialen Brennpunkt entsteht.

Helmut Gohr: In Sömmerda betreibt ihr als Baptistengemeinde schon länger eine offene Arbeit mit Kindern in einem Plattenbaugebiet. Wie läuft das und was ist das Besondere dabei?

Hajo Brandt: Ich denke, dass es gar nichts Besonderes oder Außergewöhnliches gibt. Die Arbeit ist entstanden aus einer Not heraus und hat sich dann immer weiter entwickelt nach dem Bedarf, also dem was jeweils als Anforderung entstand und dem, was als Mitarbeiter-Potential verfügbar war.

Helmut Gohr: Was war denn die Not? Erzählt doch mal, wie diese Arbeit begonnen hat?

Christiane Brandt: Es begann mit der Zeltkirche im Jahr 2005. Damals stand das „Thüringer Wanderzelt“ für eine Woche mitten im größten Plattenbaugebiet von Sömmerda. Wir hatten neben den Veranstaltungen für Erwachsene auch an Vor- und Nachmittagen jeweils ein Kinderprogramm. Manche Kinder waren den ganzen Tag da und mussten abends richtig von uns nach Hause geschickt werden. Für die Kinder war es spannend und sie suchten Kontakt. Es war schnell klar, dass es eine Fortsetzung nach der Woche geben musste. Die Not war: Kinder waren meist mehr oder weniger sich selbst überlassen und lungerten auf der Straße herum. In der Gemeinde dagegen gab es fast keine Kinder. Hier wollten wir ansetzen. Das Plattenbaugebiet ist sozialer Brennpunkt von Sömmerda. Eine Kirche oder christliche Gemeinde gab es hier nicht. Uns war klar, dass wir vor Ort sein mussten. Also luden wir mutig am letzten Tag der Zeltwoche ein: Treffpunkt am kommenden Freitag 16 Uhr hier auf der Zeltwiese. Einen anderen Ort hatten wir nicht, denn in unser Gemeindehaus in der Altstadt würden diese Kinder nicht kommen.

Helmut Gohr: Und die Kinder sind gekommen?

Christiane Brandt: Natürlich. Wir stellten einfach ein kleines Zelt auf, so ein rundes mit einer Mittelstange und das war für die nächsten Wochen der Treffpunkt. Vor dem Zelt gemeinsam Spielen und drinnen Geschichten hören. Für den Winter konnten wir dann eine 1-Raum-Wohnung in einem Wohnblock anmieten, die wir mit den Kindern zusammen gemalert haben. Nur das war bald zu eng und für das Wohnhaus waren wir mit den wilden Kindern auch viel zu laut.

Hajo Brandt: Da traf es sich gut, dass die Stadt im folgenden Jahr ein schönes Haus als ein Bürgerzentrum im Plattenbaugebiet ausbaute. Es war genau zur richtigen Zeit. Hier hat unsere Gemeinde 2 Räume gemietet und so konnte die Arbeit weiter wachsen.

Helmut Gohr: Was für Kinder kamen denn und wie habt ihr diese Arbeit weiter aufgebaut?

Christiane Brandt: Die Kinder kamen meist aus Patchwork-Familien und oft aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Das ist immer wieder eine enorme Herausforderung und hat nichts mit der Sonntagsschule zu tun, wie ich sie noch als Kind besuchte. Das Einüben sozialer Kompetenzen ist zuerst ganz wichtig. Zunächst gab es Kinderstunden mit vielen Spielen, Liedern und Geschichten aus der Bibel, um christliche Werte zu entdecken. Und von Anfang an war das immer mit einem Essen verbunden. Ich glaube, es gab wohl keine Gruppenstunde ohne irgend etwas zu Essen. Wir haben das als ein ganz wesentliches Element entdeckt. Eine gemeinsame Mahlzeit mit einem gemeinsamen Beginn durch z.B. ein Lied oder einen rhythmischen  Tischspruch oder einem Gebet vom Gebetswürfel. So ist ein fröhliches Ritual entstanden, denn viele Kinder kannten von ihrem Zuhause kaum gemeinsame Mahlzeiten.

Hajo Brandt: Und dann gab es auch schon bald eine Bastel-Kinderstunde, um einfach auch miteinander kreativ tätig zu sein. Später ist dann daraus der CreaClub entstanden als separates Wochenangebot. Kinder sollen ihre Fähigkeiten entdecken und entfalten. Die Kinderstunde wurde später in kleine und große Kinder aufgeteilt, dem Bibelentdecker-Club. Es kam Gitarrenunterricht dazu, Hausaufgabenhilfe, Kochen mit Kindern, Trommeln mit Kindern.

Helmut Gohr: Wie könnt ihr das alles mit Mitarbeitern absichern mit so einer kleinen Gemeinde, ihr seid um die 40 Mitglieder?

Christiane Brandt: Natürlich hängt es immer von dem MA-Potential ab. Alles geht nicht auf einmal und so gibt es momentan auch Kochen und Trommeln nicht mehr. Auch der Bibelentdecker-Club muss eine Pause machen. Die MA aus der Gemeinde wechseln oder fallen aus, weil sie etwa aus der Arbeitslosigkeit wieder eine Arbeit bekommen haben. Es sind auch Freunde der Gemeinde, die mitmachen, über mehrere Jahre eine Großmutter eines Kindes, momentan wieder eine Mutter und eine andere Frau, die Essen zubereiten, Spielen oder Basteln betreuen. So entsteht über eine schöne nützliche Aufgabe auch der Kontakt zu Christen und zur Gemeinde. Mehrmals hatten wir auch 1-Euro-Kräfte.

Hajo Brandt: Nach und nach ist uns immer mehr bewusst geworden, dass wir eine christlich orientierte Sozialarbeit betreiben. Die Menschen, Kinder wie Erwachsene, beobachten sehr genau, wie wir unser Christsein leben, wie wir mit Konflikten umgehen, wie wir uns auf sie einlassen, ob wir authentisch sind. Es geht nicht zuerst darum, biblische Geschichten zu erzählen, sondern christliche Werte zu leben. Das ist eine enorme Herausforderung, wenn ich z.B. nur an einen Jungen denke, der im CreaClub ständig provoziert und gestört hat. Ich habe mich immer wieder gefragt, wie Jesus das wohl gemeistert hätte. Liebe zum Menschen heißt ja nicht, alles zu dulden, sondern den Menschen in seiner Besonderheit anzunehmen.

Christiane Brandt: Besonderes kritisch ist es bei den Kindern mit ADHS, wovon auch einige kommen. Sie erfahren ja überall Ablehnung. Aber sie anzunehmen und zu integrieren, sie trotz aller Schwierigkeiten nicht einfach raus schmeißen, ist ein enormer Lernprozess für alle Seiten.

Helmut Gohr: Solche diakonische Arbeit  kostet ja auch etwas. Ihr bietet den Kindern viele Dinge an. Wie finanziert ihr das?

Hajo Brandt: Die Miete für die Räume bezahlt natürlich unsere Gemeinde. Zusätzlich gibt es im Gemeindehaushalt ein kleines Budget, aus dem wir laufende Ausgaben decken. Aber darüber hinaus leben wir von Spenden oder vom Altpapiersammeln. Die Oma eines Kindes hat uns den Kontakt zur Ehrenamtsförderung des Landkreises eröffnet und so haben wir darüber Mittel erhalten, und konnten in einem Jahr eine kleine Ausstattung des CreaClubs mit Mobiliar, Kleinmaschinen und Werkzeug realisieren. Andere Jahre haben wir Arbeitsmaterialien und Bausätze gekauft. Alle Angebote sind für die Kinder kostenlos. Es soll kein Kind aus Kostengründen nicht teilnehmen können. Dabei verfolgen wir aber dennoch das Ziel, dass Werte erkannt und geschätzt werden.

Und seit 2010 erhalten wir auch eine Unterstützung vom Dienstbereich Mission unseres Bundes. Wir haben darum gebeten, weil wir unser Gemeindezentrum umfassend saniert und erweitert haben und unsere Gemeinde finanziell deshalb sehr belastet ist. Damit ist es uns möglich, diese offene Arbeit mit Kindern weiter zu führen.

Christiane Brandt: Lediglich bei Ferienfahrten erbitten wir einen geringen Teilnehmerbeitrag. Einmal im Jahr machen wir mit den Kindern eine Wochenendfahrt auf einen Zeltplatz in der Nähe. Für etliche Kinder ist das die einzige Urlaubsfahrt. Für die Kinder ist es ein riesiger Höhepunkt. Hier wollen wir, dass Elternhäuser sich auch finanziell beteiligen. Aber oft rufen wir in der Gemeinde trotzdem noch zu gezielten privaten Spenden dafür auf.

Helmut Gohr: In dem Bürgerzentrum von Sömmerda gibt es ja sicher auch andere Mieter. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit?

Christiane Brandt: Sehr gut. Es gibt wirklich ein gutes Miteinander und wir sind voll akzeptiert. Da sind das Offene Jugendhaus, die Kinderbetreuung der Arbeitsloseninitiative, der Bund der Vertriebenen, das Quartiersmanagement. Wir sprechen uns miteinander ab, gestalten gemeinsame Feste und  Veranstaltungen wie den Weihnachtsmarkt, Fasching, den Kindertag, den Tag der offenen Tür, ein Wohngebietsfest.

Hajo Brandt: Die Stadt hat eine kleine Broschüre erstellt mit allen Angeboten für Kinder. Hier sind wir natürlich dabei. Eine Giraffe mit Namen GITTA (Gibt immer total tolle Angebote) ist das Symboltier und wir im CreaClub haben eine 2m große Giraffe aus Pappmaschee gebaut. Diese war dann bei der Kinderkonferenz (KiKo) dabei. Die KiKo wurde vom Runden Tisch für Sozialarbeit im Wohngebiet  veranstaltet, an dem wir auch mitarbeiten. Im Vorfeld haben Testgruppen von Kindern über längere Zeit an den verschiedenen Kinderangeboten des Stadtteils mitgemacht und nach bestimmten Kriterien diese Angebote bewertet. In einer großen Konferenz mit politischer Prominenz wurde das ausgewertet und wir als Gemeinde sind da sehr gut bewertet worden.

Helmut Gohr: Welche Ereignisse oder Höhepunkte fallen euch spontan ein, woran erinnert ihr euch besonders gern?

Christiane Brandt: Besondere Ereignisse sind meist Dinge, die „unter die Haut gehen“. Dramatisch war, als ein Kleinkind im Plattenbaugebiet verhungert ist. Alle Zeitungen berichteten darüber und das Fernsehen war da. Jeder war betroffen und kaum einer wusste, wie damit umgehen? Schuldzuweisungen gab es viele. Natürlich war das auch Thema bei uns. Ein anderer Schock war, als die Mutter zweier unserer Kinder plötzlich starb. Darüber mussten wir reden und Kinder schrieben ihre Gebete auf. Bei aller Dramatik waren das auch Chancen, existenzielle Fragen des Lebens von Gott her zu sehen.

Hajo Brandt: Ich erinnere mich gern an die Aktion Pro Christ für Kids. In einer Grundschule im Plattenbaugebiet haben wir als Gemeinde 2009 die Pro-Christ-Veranstaltungen angeboten. Bei denen für Kinder war die Aula der Schule immer voll, und es war beeindruckend zu erleben, wie viele der Kinder thematisch mitgingen. Tief berührt hat mich das Lied: Leg deine Hand in meine Hand. Kinder konnten ihre Hand auf ein Blatt Papier mit einer Hand legen und so einen Schritt des Vertrauens zu Gott ganz still für sich probieren, das vielleicht später im Leben einmal entscheidend sein kann. So ist unsere offene Arbeit für Kinder insgesamt eine Arbeit auf Zukunft hin. Kinder lernen, dass Glaube und Vertrauen zu Gott nichts Theoretisches sind, sondern mit dem täglichen Leben zu tun haben. Wir bearbeiten den wirklich harten oder durch viel „Unkraut“ belasteten Boden und säen eine gute Botschaft. Das Gedeihen kann allein nur Gott schenken.

Helmut Gohr: Das ist ein schönes Schlusswort. Vielen Dank für das Gespräch. Ich wünsche euch, dass Gott eure Arbeit weiter segnet und so noch viele Menschen zu Gott finden.

 

Christiane und Hajo Brandt sind miteinander verheiratet und haben 4 erwachsene Kinder. Christiane arbeitet als Gemeindepädagogin bei der Evangelischen Kirche. Hajo ist Mitarbeiter in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Sie sind Mitglieder der Baptistengemeinde in Sömmerda.



Ein Artikel von Helmut Gohr