Fast alles verloren

Ein Bericht von IDEA-Redakteurin Romy Schneider

IDEA, Wetzlar. Gunnar Lawrenz ist Gemeindeleiter der Evangelisch-Freikirchlichen „Credogemeinde“ (Baptisten) im Landkreis Ahrweiler. Der Lehrer ist stellvertretender Leiter des Peter-Joerres-Gymnasiums in Ahrweiler. Wie er persönlich die Flutkatastrophe erlebt hat, schilderte er Romy Schneider. 

Die Flut kam nachts. Es war zwischen zwei und drei Uhr. Die Feuerwehr hatte uns vor dem Hochwasser gewarnt. Schnell brachten wir unsere Fahrzeuge in Sicherheit. Ich habe auch von meinen gebehinderten Nachbarn das Auto weggefahren. Die hätten es zu Fuß nicht mehr in ihr Haus geschafft. Denn die Welle war stärker, als wir uns vorgestellt hatten. Einige Häuser mussten sofort evakuiert werden. Doch manche Menschen hatten es erst zu spät mitbekommen. Sie kamen nicht mehr raus aus ihren Häusern. Meine Frau und ich haben noch zwei Mieter aus einem anderen Haus aus dem Schlaf geweckt und sie in unser Privathaus mitgenommen. Das war ihre Rettung. Das Wasser strömte schon durch die Straße. Eine 87-jährige Frau wollte unbedingt in ihr Haus zurück. Sie hat die Gefahr unterschätzt. Aber sie kam nicht mehr auf die andere Straßenseite. Die Strömung war zu stark. Wir haben sie dann an die Hand genommen und auch mit zu uns ins Obergeschoss gebracht. Im Erdgeschoss stand ja schon das Wasser. Da saßen wir nun zusammen und bangten. Ich habe die Gitarre geholt, und wir sangen einige Lieder. Das war etwas tröstlich. Meine Frau schaute immer wieder vom Fenster aus auf die Straße. Sie sagte, sie habe wie in Dauerschleife den Bibelvers aus dem Buch Hiob im Kopf: „Der Herr hat es gegeben. Der Herr hat es genommen. Gepriesen sei der Name des Herrn“. Es fiel ihr unglaublich schwer, das so zu akzeptieren. Vor unseren Augen wurden Autos kopfüber durch die Straße geschossen.

Ehepaar von den Fluten weggerissen

Andere aus der Gemeinde haben Ähnliches erlebt. 27 Personen der 70 Gemeindemitglieder sind besonders schwer getroffen. Sie haben fast alles verloren. In den Tagen danach organisierten wir als Gemeinde Sachspenden: Handtücher, Bettwäsche, Anziehsachen, Möbel. Der ganze Stadtteil stank nach Schlamm und ausgelaufenem Öl. Teilweise waren Tankstellen überflutet worden. Wir nahmen Kontakt auf zu den Gemeindemitgliedern. Wie geht es jedem? Wer ist zu Schaden gekommen? Eine Familie aus dem Nachbarort Heppingen konnten wir nicht erreichen. Wir haben herumgefragt und gesucht. Dann erzählte ein Nachbar, er habe beobachtet, wie die Flutwelle die Frau und ihren Mann mitgerissen hatte. Von ihrem Anfang 20-jährigen Sohn fehlt auch jede Spur. Ihre Körper sind zwar noch nicht gefunden worden, aber es besteht keine Hoffnung mehr. Die beiden waren die Hausmeister in unserer Gemeinde. Unglaublich engagiert. Sie haben sehr vielen Menschen geholfen. Sie waren das Herz der Gemeinde.

„Sie schuften Tag und Nacht“

Am Sonntag haben wir einen Gottesdienst der Trauer, Tränen und der Klage gefeiert. Es wurde viel geweint. Es tat uns gut, einen Moment zu haben, wo wir unseren Schmerz rauslassen konnten. Denn wir sind noch im Funktionsmodus. Auch die Anteilnahme tut gut. Die Welle der Hilfsbereitschaft, die wir jetzt erfahren, ist größer als die Welle der Zerstörung. Wildfremde Menschen, Freunde und Kollegen kommen in unsere Straße. Sie schuften Tag und Nacht. Ein kleiner Junge fuhr mit dem Fahrrad an unserem Haus vorbei. Er wird vielleicht acht Jahre gewesen sein. Er gab mir einen handgeschriebenen Zettel in die Hand. Darauf hat er gekritzelt: „Viel Kraft und viel Segen. Ben.“ Das hat mich zu Tränen gerührt. Ich trage den Zettel immer im Portemonnaie bei mir.

Erschienen in IDEA 29/2021 vom 21. Juli 2021, S. 37.

Ein Artikel von Romy Schneider (IDEA)